Ein Vollpfosten auf Rollen - Kapitel 1.1

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Ein Vollpfosten auf Rollen


Bereits als ich aus dem Haus trete und den Morgenhimmel betrachte, trifft mich die Erkenntnis dieses jungen Tages: Wer auch immer den Satz Morgenstund hat Gold im Mund erfunden hat, ist ein echtes Arschgesicht und gehört geknebelt, gefesselt und gevierteilt!

Es regnet in Strömen. Schon wieder.

»Öfter mal was Neues!«, schimpfe ich.

Zwar ist es nicht weit bis zur Schule, bloß ein paar Hundert Meter, die ich locker zu Fuß gehen kann, aber bei diesem Wetter ist selbst das zu viel. Ich stapfe durch Pfützen, renne den Gehweg entlang und schaue weder nach links noch nach rechts. Die Regentropfen klatschen mir ins Gesicht und meine dunklen langen Haare kleben innerhalb weniger Sekunden an meinen Wangen fest. Damit sackt meine Stimmung endgültig unter den Gefrierpunkt.

Während ich noch dabei bin, diesen Tag so richtig zu verfluchen, bemerke ich, dass sich mir eine Gestalt in rasantem Tempo nähert. Ein Skateboard donnert auf mich zu. Als ich das erkenne, ist es längst zu spät.

Es geht alles blitzschnell. »Hey, mach die Augen auf!«, rufe ich im letzten Augenblick und fuchtle wie wild mit den Armen, doch der Typ scheint mich weder zu sehen noch zu hören. Ich will ausweichen und mache einen großen Schritt zur Seite. Doch es nutzt alles nichts. Meine Schuhsohle rutscht über die glitschige Kante des Gehweges, ich stolpere und falle hin. In letzter Sekunde gelingt es mir mich mit beiden Händen abzufangen. So rette ich wenigstens einen Teil meiner Klamotten, die sonst garantiert ein unfreiwilliges Vollbad genommen hätten. Die Schultasche bekommt jedoch die volle Ladung ab. Sie landet in einer Pfütze und bespritzt mein Shirt und meine Jacke mit miefendem Dreckwasser.

»Verdammt! Pass doch auf! Hast du keine Augen im Kopf! Wer skatet denn überhaupt bei Regen?«, brülle ich dem Kerl hinterher, während ich mich umständlich auf meine Knie aufraffe, um die Tasche hochzuheben. Auf den ersten Blick scheint mit dem Inhalt zumindest alles soweit okay zu sein. Gerade noch gutgegangen. Meine vor Nässe triefende Bioarbeit komplett abzuschreiben, darauf kann ich echt liebend gerne verzichten!

Der Regen verschluckt meine Silben. So hänge ich noch ein beherztes »Vollidiot!« an und realisiere im selben Moment den Schmerz an meinen Händen. Hoffentlich blute ich nicht! Sobald ich nur einen Tropfen Blut sehe, wird mir speiübel. Mit bangem Blick beginne ich meine Handflächen zu untersuchen und sehe ein ungesundes Rot. Kleine Kieselsteine haben sich millimetertief in die Haut gebohrt.

»Was für ein hirnloser Vollpfosten«, fluche ich noch einmal genervt und während ich ganz vorsichtig die ersten Steinchen einzeln herauszupfe, streckt sich mir plötzlich eine Hand entgegen.

Ich blicke erschrocken auf und sehe dabei direkt in geheimnisvolle, grüne Augen. Ein Funke der Belustigung tanzt in ihnen. Auf den Lippen meines Gegenübers zeichnet sich ein schelmisches Grinsen ab. Das Gesamtpaket gefällt mir. Warum muss es ausgerechnet zu dem Typen gehören, der mich eben über den Haufen gefahren hat? Ich schätze ihn auf siebzehn, vielleicht achtzehn. Dass er unverschämt gut aussieht, muss ich ja nicht noch extra erwähnen. In dem Moment, als er mir die Hand entgegenstreckt, fallen ihm ein paar Locken in die Stirn. Sie sind so schwarz wie seine dichten Augenwimpern und bilden einen faszinierenden Kontrast zu seinen markanten Wangenknochen.

Sein Mundwinkel verzieht sich noch ein kleines bisschen mehr und ein angedeutetes Grübchen ziert seine Wange. »Der Vollpfosten bittet um Entschuldigung.«

Stadt der Verborgenen (Die Phoenicrus-Trilogie 1)Where stories live. Discover now