Ein Umschlag und andere Katastrophen - Kapitel 3.2

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Ein Umschlag und andere Katastrophen - 3.2


Goethe, Schiller ... Oh Mann! Die bringen eh schon andere mit.

Plötzlich klingelt das Telefon im Flur.

»Keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit!«, informiere ich überflüssigerweise den Apparat und wusle mich stattdessen durch die Bücher.

Piep ... der Anrufbeantworter ist angesprungen.

»Halli hallo, hier ist Opa!«, höre ich die markant tiefe Stimme. Unweigerlich muss ich schmunzeln. Immer wenn wir mehrere Tage nicht zu Besuch waren, ruft er bei uns an. Wer kann es ihm verübeln? Seit Oma vor etwas mehr als einem Jahr gestorben ist, fühlt er sich ziemlich einsam. Doch das ist nicht alles. Leider. Mit jedem Tag, der vergeht, benimmt er sich eigenartiger. Anfangs hofften wir alle, es sei nur seine ganz eigene Art zu trauern, aber mittlerweile ... ich seufze. Meine Eltern diskutieren seit geraumer Zeit, ob er vielleicht nicht besser in einem Seniorenheim aufgehoben wäre. Ehrlich gesagt habe ich kein gutes Gefühl dabei. Opa liebt sein altes Haus, seinen Garten und vor allem seine kleine Tüftlerwerkstatt. Er ist fit wie eh und je, nur sein Verstand scheint nicht mehr so gut zu funktionieren.

»Na, bei euch alles gut? Sagt mal, es ist nicht zufälligerweise vorhin einer von euch vor meinem Haus herumgeschlichen?«

Ich halte in meiner Suche kurz inne und schüttle betrübt den Kopf. Der alte Verfolgungswahn.

Seit er alleine lebt, ist er total verwirrt. Ob das davon kommt, dass er alleine leben muss und überfordert ist oder ob er eher an Altersdemenz leidet, ist noch unklar. Ständig sucht er irgendwas und plappert wirres Zeug. Er behauptet immer wieder, dass Menschen aus seinem Leben spurlos verschwinden und böse Leute ihn observieren.

»Und Kleines, bist du noch zu Hause?«, fragt er den Anrufbeantworter.

»Ja, bin ich«, murmle ich, aber ich ahne, dass er nicht wissen will, ob ich schon in der Schule bin. Er spielt auf etwas anderes an. Seinen Traum – seinen wiederkehrenden Albtraum, um genau zu sein. Er hat Angst, dass ich entführt wurde. Ich versuche mich auf meine Suche zu konzentrieren und mein Blick tastet die Buchrücken ab. Leider komme ich partout nicht dahinter, nach welchem System Mama ihre Bücher eingeordnet hat – vermutlich nach gar keinem. Viel eher ist sie für Feng-Shui und den richtigen Chi-Fluss zu begeistern als für das Alphabet. So bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als ein Buchrücken nach dem anderen zu prüfen. Echt großartig, Mama!

»Kind, ich hab es wieder geträumt! Sie haben dich geholt! Bei Nacht und Nebel. Gib doch bitte mal ein kurzes Lebenszeichen. Du weißt ja, wo du mich findest ...«

Alles klar! Das war das Codewort für: Komm vorbei!

»Mach ich, Opa«, verspreche ich ihm, auch wenn er mich nicht hören kann.

Mir bleibt ohnehin keine Zeit. Nicht jetzt. Selbst meine Hände sind schweißnass, weil ich so unter Zeitdruck stehe.

Dann endlich bleibt mein Blick an einem Titel hängen. Ein Buch, das ziemlich alt und verstaubt aussieht. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und schnuppere am Einband, der bereits feine Brüche hat. Er riecht sogar leicht muffig – genau das, was ich brauche.

Emma.

Es ist von Jane Austen – definitiv ein Klassiker.

Kurzerhand schnappe ich mir den Wälzer. Als ich das Buch aus dem Regal ziehe, steigt eine dicke Staubwolke empor. Ich huste und wedle mir Luft zu, während sich die feinen Staubkörner flirrend im ganzen Zimmer verteilen. Emma ist offenbar schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr bewegt worden. Ich lasse die Seiten zwischen meinen Fingern springen und nehme vage die Zahl fünfhundertneunundfünfzig wahr, als plötzlich etwas zu Boden segelt.

»Was ist das denn?«, murmle ich, während ich in die Knie gehe und das Papier betrachte. Es ist ein Briefumschlag. Die Kanten sind gelb verfärbt, leicht geknickt und fleckig. Neugierig wende ich das Kuvert in der Hand hin und her.

Keine Anschrift. Kein Absender.

»Merkwürdig.«

Doch die unversiegelte Umschlagklappe lacht mich auffordernd an. Wirklich! Na ja, es kommt, wie es kommen muss. Die Neugier in mir siegt – wie immer.

Mit leicht zittrigen Fingern ziehe ich einen Brief aus der Hülle und entfalte ihn vorsichtig. Als ich die erste Zeile überfliege, bin ich verwirrt. Der oder die geheimnisvolle Unbekannte richtet das Wort direkt an meine Eltern.


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Hier kommt auch schon der zweite Ausschnitt aus Kapitel 3.

Ich hoffe, dass er euch ebenso gut gefällt, wie die bisherigen.

Und übrigens: ich freue mich einfach unglaublich, dass so viele meine Geschichte lesen. Von HERZEN DANKE an euch alle! ❤️

Stadt der Verborgenen (Die Phoenicrus-Trilogie 1)Where stories live. Discover now