Flucht 1

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ZORAIDA

"Du darfst nicht gehen!" Mein kleiner Bruder steht an der Tür und sieht zu, wie ich hektisch das Wichtigste zusammenpacke. Ich muss ihn nicht ansehen um zu wissen, dass ihm die Tränen über die Wangen laufen. Ich höre das Wimmern in seiner Stimme. "Solltest du nicht schlafen, was machst du noch wach?", frage ich und kämpfe gegen meine eigenen Tränen an. Er sollte das alles nicht miterleben. Er sollte schlafen und erst morgen merken, dass ich verschwunden bin. Ich packe weiter meine Sachen. Ich lege mir noch zwei T-Shirts in den Rucksack und mein Fell für die kalten Nächte. "Du darfst nicht gehen." Diesmal ist es nur noch ein Wispern und ich höre, wie er schnieft.

Ich schließe meine Augen und versuche mich zu konzentrieren. Ich schaue mich in meinem kleinen Zimmer um. Ich stehe vor meinem viel zu kleinem Bett. Daneben steht mein Nachtschrank mit meiner vollen Trinkflasche. Ich packe sie in meinen Rucksack. Alles in meinem Zimmer ist aus Holz und in die Jahre gekommen. Nichts hier war neu und das Meiste gebraucht.

Ich brauche noch mein Geld, dass ich über die letzten Monate heimlich angespart hatte. Ich hatte dafür in den Mienen hart gearbeitet bei einem alten Freund meines Vaters , der meinem Vater noch etwas schuldete. Mein Vater hatte ihm davor bewahrt eine Hand zu verlieren. Arden wurde beschuldigt Brot von einem Malum geklaut zu haben. Mein Vater bettelte um Gnade und sagte er gäbe ihnen ein Brot, um das Beklaute auszugleichen. Statt nur ein Brot zu nehmen, plünderten sie unsere ganze Küche und nahmen alles essbare mit und was ihr Herz sonst so begehrte und nahmen Arden trotzdem einen Finger. Nach dem Plündern waren unser Leben für einen Monat miserabler als sowieso schon. Vater arbeitete von früh bis spät ohne Pause und trotzdem war unser Teller nie voll genug, um uns satt zu machen. Als ich Arden dann vor ein paar Monaten bat mir einen Job zu geben, willigte er ein.

Niemand durfte davon Wind bekommen, dass ich heimlich arbeitete, sonst wäre ich und bin ich tot, genauso wie Arden. Geld verdienen ist nur etwas für Männer. Frauen muss man unterdrücken, damit sie gehorchen und nicht selbst leben können. 

Ich krame mein Geld hervor, das ich hinter einem Bilderrahmen an der Wand versteckt hatte, hervor. Auf dem Bild waren die Wälder unseres Dorfes Silentium gezeichnet. Das Bild spiegelte für mich Freiheit wider, auch wenn die Wälder allein mich auch nicht schützen können.

"Nein", bettelt mein Bruder, während er mein Bein umklammert. Ich schaue ihn zum ersten Mal an, seit er in mein Zimmer kam. Seine blonden Locken verdecken sein halbes Gesicht und seine Augen sind glasig.  Er hält nicht nur mich, sondern auch sein Kuscheltier Rory fest an sich. Er wischt sich mit seinem viel zu langen Nachtzeugärmel über die Nase.

Ich darf jetzt nicht weinen. Sonst komme ich hier nicht mehr weg. Ich reiße ihn von mir los. "Cor, du sollst wieder ins Bett gehen. Für so etwas habe ich keine Zeit." Seine Arme fallen schlapp zur Seite als hätte ich ihn gerade vor dem Kopf gestoßen. Statt auf ihn zu reagieren, packe ich weiter. Ich packe noch ein Taschenmesser in meinem Rucksack und nehme das Buch mit, dass mir mein Vater vor seinem Tod geschenkt hat. Es ist das einzige Emotionale, dass ich mitnehme. Cor schüttelt den Kopf. "Nein, nein, nein. Das darfst du nicht. Geh nicht." Ich schaue ihm tief in die Augen und beiße meine Zähne fest aufeinander. "Geh", ist alles, was ich hervorbringen kann, während meine Hände sich zu Fäuste ballen.

"Ich hasse dich", ist alles, was er hervorbringt, bevor er sein Kopf enttäuscht nach unten neigt und durch meine Zimmertür verschwindet. Ich merke, wie eine Träne meine Wange hinunterrutscht. Schnell wische ich sie beiseite, bevor die Nächsten sich dazu gesellen können. 

"Er mag mich hassen, aber das ist besser so, so muss er mich nicht missen", rede ich mir ein. Meinen Rucksack fest um meine Taille geschnallt, gehe ich mit Zehenspitzen die Treppe hinab. Mein Bruder ist zwar wach, doch wenn meine Mutter herausfindet, dass ich flüchten will, weckt sie notfalls das ganze Dorf nur um mich hier zu behalten. Das darf nicht passieren. Mein Herz pocht, wie wild in meiner Brust, jedes Mal wenn der Holzboden unter mir anfängt zu quietschen. Jeder noch so kleine Laut lässt mich innehalten. Ich halte mich am Geländer fest als wäre es ein Seil, dass mich davor bewahrt in die Tiefe zu stürzen. Es ist stockdunkel um mich herum und doch scheinen meine Augen alles sehen zu können, jedes noch so kleine Loch im Boden. Das Adrenalin schießt durch mich hindurch. Alles in mir schreit: "Renn!", doch das ist das letzte, was ich tue. Erst, wenn ich aus diesem Haus bin, erst wenn meine Füße die Schwelle der Tür überschreiten. Als ich direkt vor der Tür stehe, höre ich ein lautes Klopfen. 

Mein Herz droht aus zu setzen. Ich trete zurück, schneller als ich sollte und falle beinahe über meine eigenen Füße. Flink drehe ich mich um und renne so schnell ich es wage zur Hintertür. Ein weiteres Klopfen. Dann höre ich eine Türklinke. Über mir sehe ich meine Mutter, die ein Licht in der Hand hält. "Ich muss hier raus, jetzt", denke ich und nehme die Türklinke in die Hand. 

"Frau Toivoa, Kontrollinspektion!" Die tiefe Stimme des Mannes lässt einen kalten Schauer über meinen Rücken laufen. Während er draußen schreit, nutze ich die Gelegenheit und öffne die Türklinke und husche durch die Tür in den Garten. Draußen sehe ich mehrere Reiter. Alle in schwarz gekleidet, wie ich. Schnell renne ich durch den Garten in ein Gebüsch in der Nähe der gepflasterten Straße.



Somewhere between Hope and DeathWhere stories live. Discover now