Lausche dem Wind

4 0 0
                                    

CALIX

Ein Mädchen in der Ferne rennt in meine Richtung. Sie scheint ziemlich schnell unterwegs zu sein für ihre Größe. Ihre Kapuze fällt durch den Wind auf ihre Schultern und offenbart ihre langen braunen Wellen. Sie passt nicht in dieses trübe, eklige, alte Dorf. Ich sehe, dass sie in meine Richtung kommt. Ich beobachte sie für eine Weile und merke, dass keiner der Reiter sie folgt. Sie muss also davon gerannt sein, bevor die Malums ihr Haus durchsuchen konnten, sonst wäre sie nie so weit gekommen. Eigentlich soll hier nur eine routinemässige Kontrolle stattfinden. Zwar ist die Kontrolle größer als sonst, was mich verwundert, aber ich habe kein Recht das Regime und ihre Entscheidungen in Frage zu stellen. 

In Silentium war es nie spannend, daher wurden wir hierher geschickt. Hier ist bisher nie etwas spannendes passiert, bis auf ein paar Diebe und aufsässigen Damen, die schnell unter Kontrolle gebracht wurden. Hier traut sich keiner etwas und das ist auch gut so. Ein perfekter Ort, um uns langsam auf unseren Platz auf der Welt vorzubereiten. So wie es sich gehört.

Dieses Mädchen jedoch hält sich nicht an die Regeln dieser Welt. Ich sehe einen Rucksack um ihre Schultern und realisiere, dass sie die Flucht wagen will, den Sprung ins Ungewisse. Sie zieht meine Aufmerksamkeit auf sich und ich kann nicht anders als sie anzustarren. 

Sie muss das geplant haben. Ausgerechnet heute. Sie hätte einen schlechteren Tag nicht aussuchen können. Mit so viel Pech wird sie nicht lange durchhalten und schneller gefangen werden als sie ahnt. 

Als sie nur noch ein paar Meter von mir entfernt ist, bleibt sie stehen. Sie ist mir so nah, dass ich ihr Gesicht erkennen kann. Sie hat dicke braune Brauen und eine zierliche Nase. Ihre Augen sind schmal und ihre Wangen errötet. Sie steht noch eine Weile so da und langsam denke ich sie wäre regelrecht erstarrt, wäre da nicht ihr lauter Atem. 

"Ich habe es geschafft", höre ich kaum merklich über ihre Lippen wandern. Das kann doch nicht ihr ernst sein, das hier ist erst der Anfang und sie hat keine Chance, keiner hat das, der vor dem Regime flieht. 

Sie sollte angst haben. "Denkst du das etwa?" Meine Stimme wird durch die Bäume in alle Richtungen geschleudert und sie weiß nicht woher die Stimme kommt. Sie dreht sich mehrmals hin und her und doch sieht sie mich nicht.

"Was willst du?", fragt sie mich. Weder bebt ihre Stimme, noch zittert sie. Hat sie denn keine Angst vor mir? Was für ein dummes Mädchen sie doch ist und dennoch... diese Furchtlosigkeit mir gegenüber, einem Schatten in den Wäldern, lässt mich neugierig werden. Ich sehe, wie ihr Körper sich in den Wald lehnt, als würde sie jeden Moment verschwinden. Ich weiß, dass sie auf der Flucht ist, doch ich will sie nicht gehen lassen.

"Du willst doch nicht schon gehen oder?" Ich hoffe, dass ich sie noch einen Augenblick hierbehalten kann, doch sie rennt weg, tief in den Wald hinein, wo die Bäume ihr zuflucht bieten. Ich schaue ihr noch eine Weile lang nach, nahe zu perplex. Für einen kurzen Moment sah ich Ihre grünen Augen, noch so voller Hoffnung, Verlangen nach etwas, das es nicht gibt: Freiheit. 

"Soldat Calix." Ich drehe mich ohne mit der Wimper zu zucken um und komme aus meinem Schatten hervor. "Soldat Visha", begrüße ich ihn. Wir haben keinen Nachnamen, denn wir haben auch keine Familie. Wir sind alle ohne Eltern und verwenden daher auch nur unsere Vornamen um einander anzusprechen. Erst, wenn wir unsere Prüfung absolviert haben, werden uns Nachnamen zugewiesen und das Regime wird zu unserer Familie. Wir werden zum Gesetz.

Visha starrt mich an und er sieht aus, wie ich, wie alle Malums. Der Eine unterscheidet sich von Weitem kaum vom Anderen. Das dient alles zur Abschreckung und zur Kontrolle. Die, die uns nur einmal alle paar Monate sehen, könnten uns nicht voneinander unterscheiden, doch wir zwei erkennen uns gegenseitig an unserer Statur, an unserer Haltung, an unserer Stimme. Die gleiche Kleidung macht es für Außenstehende noch schwerer uns zu unterscheiden und die Pflicht immer die Gesichter bedeckt von einer Haube oder einem Tuch zu haben, es schier unmöglich.

"Haben Sie das Mädchen gesehen?", erkundigt sich Visha. Ich stelle mich dumm. "Ein Mädchen?" Er fasst sich an den Kopf und seufzt. "Wir haben laut Ihren Namen gerufen und suchen nach Ihr. Sie ist geflohen und kann nach der Aussage Ihrer Mutter nicht weit gekommen sein, denn sie ist heute Nacht erst geflohen. Der Bruder sagt nichts, doch er weiß etwas. Wir... verhören ihn gerade. Wir kennen bisher nur ihren Namen: Zoraida Toivoa" Er brettert die Informationen herunter, wie wir es in Übungen gelernt haben. Jedem Indiz nachgehen und alles auflisten, was man bisher weiß, denn alles kann ein Hinweis sein. 

"Ich habe sie nicht gesehen." Visha studiert mich eingehend. Sein Schlafzimmer liegt genau neben meinem in der Akademie und wir kennen uns ziemlich gut, aber Lügen können wir beide gut. Ich bin noch nicht bereit dieses Mädchen zu verraten, ich will derjenige sein, der sie findet, wenn es soweit ist. Und ich habe schon zwei Vorteile: Ich weiß, wie sie aussieht und in welche Richtung sie gerannt ist. 

Ich will ein kleines Spiel mit ihr spielen und ich will gewinnen. Heute habe ich sie gehen lassen, weil sie zu fangen, für mich zu einfach gewesen wäre. 

Ich starre ihn mit leeren Augen an. "Willst du mich weiter ansehen oder sollen wir jetzt zusammen nach diesem Mädchen suchen?", frage ich ihn und bringe ihn dazu sich umzudrehen, zurück in die Stadt, wo wir gemeinsam nach dem Mädchen suchen, welches sich Zoraida nennt.

Somewhere between Hope and DeathWhere stories live. Discover now