Begegnung im Licht des Todes

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Eandelath schob sich weiter über den Himmel, um ihren beiden Schwestern in die Länder der Morgendämmerung zu folgen. Sie war der kleinste Mond, eine runde Scheibe reinsten Silbers, deren Strahlen sich schmalen Fingern gleich über Kantigark tasteten.

Die Stadt duckte sich in den Schatten eines Berghangs, umgeben von zerklüfteten Gipfeln. Ein Häusermeer, das den Talkessel ausfüllte. Gleichmäßig und unendlich, so dass Melram das andere Ende nicht erkennen konnte. Die Fabriken, monströse Ungetüme, die sich über alles andere erhoben, schwiegen am heutigen Tag. Jegliches Leben war aus den Straßen gewichen, jetzt zu Beginn des neuen Tages. Nur Melram harrte aus.

Anderthalb Stunden. Eandelath wanderte weiter. Anderthalb Stunden. Melrams Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb. Anderthalb Stunden. Sein Atem ging stoßartig. Noch nie hatte er sich mit solcher Inbrunst gewünscht, dass die Lichttage hereinbrachen. Doch die Meteorologen hatten nichts dergleichen vorausgesagt. Drei Schattentage sollten vor dem Jahreswechsel noch hereinbrechen und Melrams Volk betete eifrig, damit die Ernte dieses Jahr gut ausfallen würde.

Er selbst schickte nun ein eiliges Gebet zu Viandav in der verzweifelten Hoffnung, dass der Sonnengott am heutigen Tag sein Angesicht verbergen mochte. Doch die Götter waren grausam und würden sicherlich nicht auf die Gebete eines achtjährigen Jungen hören, der hoffte, einer gegebenen Zusage zu entrinnen. Außerdem würden Piratof und die anderen die Mutprobe sicherlich nicht anerkennen, wenn Viandav heute nicht zum Himmel empor stieg.

Anderthalb Stunden. Eine Stunde Dämmerung und eine halbe Stunde in Viandavs Licht. Das müsste zu schaffen sein, immerhin hatte Piratof es ebenfalls geschafft. Und von Ankaros sagte man sogar, dass er in seinen jungen Jahren zwei Stunden im Sonnenlicht überlebt hatte. Melram hoffte nur, dass ihm die Narben, welche Ankaros' Gesicht in eine Ruine verwandelten, erspart bleiben würden.

Anderthalb Stunden. Der Junge erhob sich langsam und begann auf dem Flachdach herum zu wandern. Es war ein leeres Haus, das Melram zu seinem Warteplatz auserkoren hatte. Zerbrochene Ziegel lagen in einer Ecke und ein vergessener Wassereimer in einer Anderen. Eandelath küsste nun den Horizont und bald würden die Berge ihm den Blick auf die dritte Mondkönigin verwehren.

Selbst die wilden Steinblüter, die am Haus wuchsen, begannen ihre Ranken einzuziehen. An anderen Tagen, wenn sein Herz nicht starr vor Furcht war, hätte er versucht, an ihre süßen Früchte zu gelangen. Doch heute verspürte er nicht die geringste Lust und Kraft, sich die Hände an ihren Dornen zu zerkratzen. Stattdessen beobachtete er wie sich die dornigen Ranken in die Ritzen des Daches zurückzogen und ihre Blüten und Früchte mit einem Schild aus dünnem Stein umspannten.

Der Morgen nahte und mit ihm würde der Tod kommen. Anderthalb Stunden. Es war nicht viel, doch für ihn erschien es wie die Ewigkeit.

Eandelaths letzte Strahlen küssten sanft sein Gesicht, dann verschwand auch dieses Licht. Die letzten Sterne funkelten kurz, bevor auch sie ihr Angesicht in einem Mantel aus Schatten und Dunkelheit verbargen. Eine Stunde Dunkelheit und mit ihr erwachte Viandav aus seinem Schlaf.

Anderthalb Stunden.

Melram hockte sich hin und schlang die Arme um seine Beine. Obwohl er schon allzu oft geklettert hatte und diese Gegend kannte wie kaum ein Anderer, verspürte er auf einmal die Angst, dass er in der Dunkelheit vom Dach fallen mochte.

„Du wirst sterben.". Die Stimme ließ ihn aufhorchen. Wie lange mochte er hier gesessen haben? Doch diese Stimme schenkte ihm seine Lebensgeister wieder und nährte die Angst, die ihn verzerrte. Waren die Geister über ihn hereingebrochen? Geister, die sich von der Angst nährten und einem den Verstand nahmen. Die Mondgöttinnen Kiandath, Mintarath und Eandelath, die Warerinnen des  Lebens waren verschwunden und mit ihnen auch der Schutz, den sie boten. Jeder wusste, dass die guten Götter in der Dämmerung keinen Schutz boten, denn beherrschten sie alleine die Nacht. Die Dämmerung war gottlos und so nütze jegliches Flehen nicht. Dennoch betete er zu Iolesna, der Herrin des Friedens, das sie jegliche Gefahr von ihm fernhalten mochte.

Mythen aus Silber und LichtWhere stories live. Discover now