Die Lichter Moskaus

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Am siebten Januar versinkt Moskau in Schnee. Das Weiß türmt sich zu Bergen an den Hauseingängen und brüchigen Mauern. Von der Pracht des Zentrums ist in diesem Vorort nichts zu sehen. Mehrfamilienhäuser, deren Renovierung sich niemand leisten kann, halb verfallene Gebäude, die seit den Sechzigern nicht mehr verändert worden sind.

Die Jungfräulichkeit des Schnees ist nur noch der Schatten eines romantisches Traumes, den die Dichter und Künstler auf Papier und Leinwand bannen. Lange hat er sich Braun verfärbt und ist eingesunken, wo Füße die einst glatte Fläche niedergetreten haben. Immer wieder sind gelbe Flecken zu erkennen, als Mensch und Tier dem Drang ihrer Blase nachgegeben haben.

Agnesa bezeichnet diesen schmutzigen Fleck der Erde nicht als ihre Heimat, aber es ist ihr mehr eine Heimat, als die Wohnung, wo ihre Mutter reglos in der Ecke sitzt und ihr Vater sie verprügelt.

Sie sind oft in den Straßen, sie und ihr Bruder, auf der Flucht vor den Ängsten und Befürchtungen, denen sie doch nicht entkommen können. Immer wieder müssen sie zurückkehren in die Wohnung, in der trotz der darin lebenden Personen kein Leben ist. Der Gedanke an die Rückkehr stiehlt ihr jetzt schon die Freude an den letzten Stunden, die noch vor ihr liegen.

Für sie ist die Zeit im Freien eine glückliche Zeit, weil sie Gemeinschaft mit ihrem Bruder hat, der sich immer spannende und spaßige Spiele und Rätsel ausdenkt. Agnesa ist fünf. Sie versteht schon viel, genießt jedoch noch die Geschenke der Unbeschwertheit und Vergesslichkeit. Kaum schließt sich die Tür hinter ihr und ihrem Bruder, hat sie die Schläge ihres Vaters für den Moment schon vergessen.

Im Gesicht ihres Bruders hat sich die Sorge dagegen festgebrannt. Die Sorge darüber, dass er als neunjähriger Junge, die Verantwortung für seine Schwester tragen muss, weil seine Eltern nicht dazu fähig sind. Schon lange hat er die Aufgabe angenommen, sie vor allem Bösen und Unglück zu beschützen und dafür zu sorgen, dass sie ihre Freude nicht verliert. Er versteht das Wort Egoismus noch nicht, aber vielleicht steht auch ein wenig von dem dahinter: Wenn seine Schwester ihm eines ihrer überschwänglichen Lächeln schenkt oder vertrauensvoll seine Hand nimmt, ist es auf einmal leicht, all den Schmerz auszublenden. Auch wenn es nur für einen Moment ist, diese Augenblicke mit seiner Schwester sind die kostbarste und wertvollste Zeit, die er hat. Um nichts in der Welt würde er seine Schwester verlassen.

„Wohin sollen wir gehen?", fragt er, wie immer wenn sie aus der Tür getreten sind.

Ein Lächeln streicht über ihr Gesicht. „Lass uns die Lichter suchen!", ruft sie und greift nach seiner Hand. Er spürt ihre feingliedrigen Finger zwischen seinen rauen Händen.

Die Lichter. Ein Traum. Ein Bild, das sie doch nie erreichen können.

Für sie stehen die Lichter wie nichts Anderes für all das, was in unerreichbarer Ferne liegt: Ein gutes Leben, eine vernünftige Ausbildung und eine glückliche und heile Familie. Es mag, ein unvernünftiger und unlogischer Traum sein, doch ist es der Traum, der sie verbindet und wie kein anderer ihre Identität und ihre Wünsche prägt. Eine Allegorie, ein Symbol für jenes Glück, nach der sie sich sehnen und das sie doch nicht erhalten.

Die Lichter. Irgendwann hat Daniil dieses Spiel erfunden, als sie beide unter der Bettdecke hockten, unter die sie sich vor ihrem Vater geflüchtet haben. Er hatte die eine Hand auf Agnesas zitternden Rücken gelegt und mit der anderen ihre rechte Hand genommen, dann hatte er sie angeschaut und gefragt: „Weißt du, warum es die Dunkelheit gibt?" Tränen waren seiner Schwester über das Gesicht gelaufen und die Bewegung des Kopfschüttelns ging nur unendlich langsam vonstatten. „Es ist so, damit die Lichter umso mehr strahlen können. Wenn alles hell ist, kann man das einzelne Licht nicht mehr erkennen, wenn es jedoch dunkel ist, lenkt dieses Licht alle Blicke auf sich."

Mythen aus Silber und LichtWhere stories live. Discover now