Stille Nacht

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24.12, 1914, Flandern bei Ypern

„Daheim schmücken sie jetzt den Weihnachtsbaum." Sehnsucht klingt aus Hermanns Stimme, doch Wilhelm wirft dem Jungen nicht mehr als einen flüchtigen Blick zu.

„So is es", murmelt er nur und blickt durch den kleinen Spiegel, der auf seinem Bajonett befestigt war, zu den gegnerischen Stellungen hinüber. Obwohl es ein klarer Morgen ist, kann er nur einen lang gestreckten Wall aus Erde und Sandsäcken und etwas herumliegendes Bauholz sehen. Man kann meinen, dass dort nur für Kanalisationsarbeiten Erdreich ausgeschachtet worden sind, doch dem ist nicht so.

„Dort rührt sich nichts", knurrt er und blickt zwischen zwei aufgeschichteten Sandsäcken hindurch. Auch jetzt bewegt sich nichts in den etwa fünfzig Meter entfernten gegnerischen Vorposten. Doch der Schein täuscht. Wilhelm weiß genau, dass die Tommys sie beobachten. Die Nacht über haben sie sich ruhig verhalten und auch im Morgengrauen war kein Angriff erfolgt. Dennoch denkt Wilhelm nicht daran, deshalb unaufmerksam zu werden. Oftmals ist es nur eine Sekunde der Unaufmerksamkeit, die über das Leben eines Soldaten entscheidet.

„Ob sie dieses Jahr wieder ein Ferkel geschlachtet haben?", überlegt Hermann derweil, „Ich weiß, es ist Krieg. Aber Mutter hat im letzten Brief geschrieben, dass die Ernte dennoch gut war." 

Sein Kamerad stellt sich nach einem letzten misstrauischen Blick auf den feindlichen Schützengraben neben ihn. 

„Glaubst du, dass wir heute noch Feldpost kriegen?" Der Junge ist hartnäckig in seiner Naivität, das musste man ihm lassen.

„Kann sein", entgegnet Wilhelm, ohne ihn anzublicken. Stattdessen schielt er auf das Ziffernblatt von Hermanns Uhr. Es ist kurz vor neun. Gewöhnlich beginnt die feindliche  Artillerie nicht vor zehn mit ihrem Feuer und ihre Ablösung würde um Halbelf kommen. Ob sie heute auch schießen würden? Sein Kamerad würde bestimmt den Geist der Weihnacht beschwören, nach dem man in Zeiten der Nächstenliebe nicht aufeinander schießt. Doch Wilhelm traut dem Frieden nicht.

„Die Preußen hinter uns haben ihre gestern schon bekommen, das hat der Gefreite Schiller gesagt", berichtet er eifrig.

„Hat er das?" Wenn Anton das gesagt hat, kann es sogar stimmen. Was das Auftreiben von Nachrichten anging, ist der alte Tischler ein wahrer Fuchs. Doch mindestens so gut wie er Nachrichten sammelt, so gut treibt er auch Essen auf. Deshalb ist es gut mit ihm befreundet zu sein. Egal von wo –  ihr Truppführer treibt es auf.

Selbst von hier, aus der vorgeschobenen Beobachtungsstelle, kann Wilhelm dessen Stimme hören. Er bittet den Heinz mit höflichen Worten, die Klappe zu halten.

Dieser liest aus dem letzten Brief vor, den er von seiner blutjungen Frau erhalten hat. An sich ist das ja nicht schlimm, sie alle freuen sich mit dem jungen Vater. Doch mittlerweile hat er die Botschaft seiner Vaterschaft so oft vorgelesen, dass selbst der stotternde Tock sie auswendig aufsagen kann.

„Hört zu!", ruft der Lehrer in diesem Moment, „Deine Mutter sagt, dass du bei deiner Geburt genauso ausgesehen hast. Nur die Augen, meint sie, hat er von mir" Zufrieden stellt Wilhelm fest, dass schon jemand anderes den jungen Vater um Ruhe bittet.

„Achtung!", zischt Hermann in diesem Moment.

Abrupt richten die beiden Soldaten sich auf und blicken aufmerksam dem Fähnrich entgegen, der zu ihnen kommt. Es ist Ludwig Scholz, der von den Mannschaften weitgehend anerkannt wird.

„Schütze Beck? Schütze Müller?"

„Ja, Sir?"

„Rührt sich da draußen etwas?" Wilhelm blickt in das Gesicht des jungen Mannes, der ihm ein freundliches Lächeln schenkt.

Mythen aus Silber und LichtWhere stories live. Discover now