Spuren im Schnee

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Es schneite. Dicke weiße Flocken legten sich über die Welt und die Kälte der einbrechenden Dunkelheit vertrieb die Menschen in  ihre Häuser vor den warmen Kamin.

Nur eine einzelne Gestalt stapfte stolpernd und leise fluchend durch die verlassenen Straßen.

Indem sie sich an einem Laternenpfahl festhielt, fing sie im letzten Moment einen Sturz ab.

Raisa schüttelte den Schnee von ihrer Jacke, zog sich die Kapuze tiefer in die Stirn und hauchte ihre erkalteten Hände an, bevor sie diese wieder in den Jackentaschen verschwinden ließ.

Einen Moment blickte sie in das ihr gegenüberliegende Fenster, wo ein Mann zwei Kindern aus einem Buch vorlas. Zärtlich küsste er den Schopf des Mädchens und tauschte ein strahlendes Lächeln mit dem Jungen aus, bevor er sich erneut über das Buch beugte.

Wie vertraut ihr der Titel vorkam. Ronja Räubertochter. Beinahe hörte sie den Donner und sah die Blitze, die am Tag von Ronjas Geburt in die Mattisburg einschlugen, sie roch die frische Stutenmilch und sah vor ihrem inneren Auge Ronja und Birk über den Höllenschlund springen. Woher kamen nur die Tränen auf einmal? Hatte sie nicht geglaubt, über das Vergangene hinweg zu sein?

Ärgerlich wischte sie die Zeichen der Schwäche fort und wandte sich von dieser Familienszene, wie sie es jedes Kind erleben sollte, ab

Sie trieb durch die Straßen, ohne zu wissen, wohin sie wollte. Ihre Finger formten Blumen aus Eis und Schnee auf Mauern und Zäunen, die sie von den glücklichen Paaren trennten, die sich hinter den Fenstern küssten und sich lachend unterhielten.

Doch Raisa blieb eine stumme und unbemerkte Beobachterin. Niemand sah ihr hinterher, niemand bemerkte sie und wenn doch, wandte er sich sogleich wieder ab.

Einzig die Schneeflocken bedeckten ihren Körper mit sanften Küssen und der Wind allein zog sie in seine feste, unausweichliche Umarmung.

Doch lag keine Wärme in diesen Zärtlichkeiten, so dass die einsame Gestalt erbärmlich fror.

Was hatte sie am heutigen Abend nur in diese Kälte hinausgetrieben? War es allein der Gedanke gewesen, dass es der heutige Tag war? Heute.

Sie ließ sich die Klänge auf der Zunge zergehen, bis ein bitterer Nachgeschmack verblieb. Heute.

Dennoch kehrte sie nicht um zu der Wohnung, in der nur Aufgaben auf sie warteten, sondern lenkte ihre Schritte vorwärts.

Der Schnee dagegen bedeckte die noch frische Fußspur hinter ihr, so dass schon in wenigen Minuten niemand mehr den Menschen, der eben noch hier geatmet und gestanden hatte, erahnen können würde.

Ihre Füße trieben sie vorwärts, als ob sie alleine die tiefsten Wünsche ihres Herzens kannten und trugen sie zuverlässig, und doch unbemerkt von ihr selber, bis vor die Tore des Friedhofs.

Raisa blickte zu der hübschen Backsteinkirche hinüber. Die großen, glänzenden Messingbuchstaben „Gloria in excelsis deo"  konnte sie selbst von hier erkennen.

Doch griffen ihre Hände nur zögernd nach dem Gitter, das sie von den Toten trennte. Einen Moment umfasste sie die kunstvolle Schmiedearbeit nur, dann stieß sie es zurück, als ob sie sich an ihr verbrannt hatte.

Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn, aber Vögel und Blüten schwangen bereitwillig zur Seite und gaben den Blick auf die Reihen der Toten frei.

Endlose Reihen von Daten und Namen, deren Geschichten bald vergessen sein würden. Dazwischen die vereinzelten Farbtupfer der bunten Blumensträuße, die fürsorgliche Seelen auf die Gräber gelegt hatten.

Mythen aus Silber und LichtWhere stories live. Discover now