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Macht

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Leonora lächelte Anskar an. Sie hatte gelesen, dass das Blut ihrer Gattung eine euphorische, ja sogar eine narkotische Wirkung hatte, aber den Effekt im echten Leben zu sehen war ekstatisch.

Macht.

Sie war ihr viel zu lange vorenthalten worden. Es war eine Sache, in den alten Datenbanken über ihre Fähigkeiten zu lesen, eine ganz andere sie anzuwenden, zu sehen, welchen Einfluss ihr Blut über andere hatte. 

Es war betörend.

Leonora senkte ihren Blick auf den Leichnam und der Anblick kühlte ihre Stimmung. „Wir können ihn nicht hier liegen lassen. Heb ihn auf, Skar. Wir bringen ihn in deine alte Zelle ... Gut so. Vorsicht jetzt. Ja, leg ihn da hin. Gut so. Und jetzt komm mit, es gibt noch jemanden, der in die Zelle muss. Hier, unter dem Tisch."

„Wer ... Wer ist das?"

„Dr. Berthold Brecht. Ein weiterer Assistent meines Vaters. Du hast seinen Kittel als Handtuch benutzt."

„Ist er ...?"

„Nur bewusstlos. Hier. Nimm das Panzertape und verschnüre ihn, so gut es geht. Bring ihn dann in die Zelle. Wenn alles gut geht, sind wir an der Oberfläche, bevor sie die beiden finden. Ich hoffe, es wird kein allzu schwerer Schlag für Berthold. Die beiden waren Freunde."

Euphorie lag in Anskars Zügen, machte jedoch einer gewissen Betretenheit Platz, als er sich über seinen Ausdruck bewusst wurde.

„Okay", meinte Leonora und fing an, in ihrem Rucksack zu kramen, bis sie eine mit Kabeln überwucherte Vorrichtung hervor holte. „Beeil dich. Ich muss noch einiges vorbereiten."

„Ist das ein Sprengsatz?"

Leonora nickte. „Sowas in der Art. Es ist eine umgebaute EMP-Granate, die die Technik hier im Labor außer Gefecht setzen wird. Eine Versicherung für den Fall, dass mein kleines Virusprogramm seine Arbeit nicht erledigt. Aber das hier – halt mal die Tasche auf – das hier ist ein echter Sprengsatz. Hausgemachtes Napalm mit Thermit. Das Zeug brennt heißer als die Hölle. Schau nicht so. Die Arbeit, die sie hier gemacht haben, darf nicht repliziert werden. Das Schmuckstück hier wird alle Viruskulturen beseitigen und für eine Ablenkung sorgen, wenn wir uns den großen Lastenfahrstuhl ausborgen, um an die Oberfläche zu kommen."

Anskar blickte sich um. „Was ist mit den Veränderten? Werden die nicht ...?"

„Die sollten sicher sein. Wenn man das so nennen kann. Los jetzt. Die Zeit wird knapp."    

***

Fünfzehn Minuten später stand Leonora vor dem Ausgang des Labors und musterte Anskar. Sie biss auf ihre Unterlippe, als sie den großen Mann von Kopf bis Fuß begutachtete. Ihre Stirn lag in Falten.

„Ist was nicht in Ordnung?", fragte Anskar.

„Hmmm", erwiderte Leonora und zog eine von Öl und Alter gezeichnete Baseballmütze aus einer ihrer scheinbar bodenlosen Hosentaschen. Sie passte die Größe an, streckte sich und setzte sie ihm auf. Anskar zog sie sich tief in die Stirn.

„Ok. Besser werden wir dich wohl nicht verkleiden können", entschied Leonora. Ihr Blick huschte zum stählernen Schott. „Es gibt noch ein paar Dinge, die du wissen solltest. Jenseits dieser Tür befindet sich der Laborkomplex. Er ist wirklich groß und nimmt fast die ganze untere Ebene von Walhalla ein. An den Projekten hier unten wird Tag und Nacht gearbeitet, aber um diese Zeit sollten uns nicht allzu viele Forscher begegnen – was aber nicht heißt, dass wir unser Glück überstrapazieren sollten." Sie blickte bei diesen Worten zu der Zelle, in der der Leichnam von Tobias Specht langsam auskühlte.

Anskar folgte ihrem Blick und nickte zögerlich.

„Unser Ziel liegt am anderen Ende des Laborkomplexes: der Zugang zu den Wartungstunneln. Von dort kommen wir überall hin. Dort unten gibt es keine Kameras, keine neugierigen Augen und Ohren."

Anskar nickte. Sein euphorisches Grinsen war verschwunden. 

Leonoras hämmerndes Herz neidete ihm seine augenscheinliche Gelassenheit. „Hast du noch Fragen?"

„Ja. Was soll ich sagen, wenn mich ... wenn uns jemand anhält?"

„Am besten gar nichts. Die meisten Wissenschaftler hier unten ignorieren Wartungstechniker für gewöhnlich. Wenn überhaupt, wird man vermutlich nur mich ansprechen – und dann auch nur wegen meinem Vater. Dann überlass das Reden einfach mir. Falls uns doch jemand aufhalten sollte, ist unsere offizielle Geschichte routinemäßige Wartungsarbeiten an der Wasseraufbereitungsanlage in Sektor 8." Sie brach ab. „Ach, weißt du was? Beschränke dich auf Lächeln und Nicken."

Anskar lächelte und nickte nachdrücklich.

Trotz allem musste Leonora grinsen. „Gar nicht schlecht. Sonst noch Fragen?"

„Unzählige", erklärte Anskar. „Aber die können warten."

Leonora nickte mitfühlend und betätigte den Öffnungsmechanismus.

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