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Der alte Fluss

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„Das muss der alte Flusslauf sein", meinte Leonora, als sie aus dem Tunnel auf ein kleines Felsplateau schritten, von dem aus sich eine kleine Brücke über einen dunklen Abgrund streckte. Die Brücke, ein rostiges Relikt, das mit Stangen, Bolzen und Kabeln an der niedrigen Decke verankert war, maß knapp sechs Meter, und mündete auf einen Felsensims, jenseits welchem der Tunnel weiterführte.

„Flusslauf? Ein unterirdischer Fluss?"

„Keine Angst", meinte Leonora „der Strom wird nur dann in diesen Ärmel geleitet, wenn Reparaturarbeiten an den Wasserturbinen gemacht werden müssen. Das war seit Jahren nicht mehr nötig."

„Sehr beruhigend", meinte Anskar wenig überzeugt und ließ das Licht seiner Taschenlampe umher wandern. Kondenswasser hatte sich auf den glatt geschliffenen Steinwänden gebildet und Wasser tropfte von winzigen Stalaktiten. Ihr plick-plick-plick war allgegenwärtig.

Er verzog das Gesicht. „Was ist das für ein Gestank?"

Das grelle Licht von Leonoras Taschenlampe wanderte über ein beschädigtes Rohr, aus dem ein beständiges Rinnsal brauner Brühe blutete. „Eine der Abwasserrohrleitungen ist wohl undicht."

Anskar machte einen zögerlichen Schritt näher an den Rand des Simses und schüttelte sich, als das Licht die Oberfläche eines sumpfigen Morasts aus dem Dunkel schälte. Stinkende Gase waberten über den Schlick aus organischem Abfall und Erdreich. Das Zeug nahm das ganze untere Drittel der Höhle ein, hob und senkte sich, als würde der Grund atmen. Anskar schob diese Bewegungen zuerst auf die Verfallsprozesse in der Suppe, doch dann sah er etwas, das ihn eines Besseren belehrte.

„Was zum Teufel?", murmelte er, als der Strahl seiner Lampe auf etwas Weißes und Schleimiges fiel, das sich kurz aus dem Schlick und gleich wieder in das sumpfige Erdreich bohrte.

Das wurmartige Ding war so lang und dick wie sein Arm. Er unterdrückte ein Würgen, als sich der Kopf eines weiteren Wurms aus dem Morast erhob. Das Ding hatte keine Augen, nur ein obszönes, schließmuskelartiges Maul ohne Zähne, das sich unablässig öffnete und schloss. Die Abscheulichkeit zuckte wie ein Fisch an Land, als sie merkte, dass sie sich aus dem schützenden Schlick erhoben hatte und bohrte sich zappelnd umgehend wieder in den wogenden Schlammpfuhl.

Anskar schüttelte sich. „Was... Was zur Hölle war das?! ... Halt! Nein, sag's mir bitte, bitte nicht. Ich will's gar nicht wissen."

Ein schelmisches Lächeln huschte über Leonoras Züge. „Was denn, bist du Vegetarier? Bist du dir zu fein für Wurmfleisch?"

„Wurmfleisch?!"

„Was hast du denn gedacht? Dass wir hier unten Höhlen mit Rindern und Hühnchen haben? Tierhaltung benötigt Platz und vor allem Futtermittel – und unsere Treibhäuser werfen gerade mal genug ab, um uns Menschen zu versorgen. Fische züchten birgt ähnliche Probleme. Würmer allerdings ..."

Anskar stierte Leonora fassungslos an. „Ihr esst diese Dinger? Wieso? Warum!?"

Die Schönheit zuckte mit den Schultern und meinte: „Albino-Würmer wurden genetisch geschaffen, um diverse Eigenschaften mehrerer Tierarten zu verbinden und um Leben unter Tage einfacher zu machen. Sie brauchen nicht viel Platz, leben von Abfallprodukten, graben den Boden um und ihre Sekrete reichern das Erdreich mit Nährstoffen an. Zudem ist ihr Fleisch reich an essentiellen Fetten, Vitaminen und hat pro Gramm mehr Protein als ein Rindersteak."

„Ich glaub, mir wird schlecht..."

„Ist gar nicht so übel. Die Alten sagen, es schmeckt wie Hühnchen. Nicht dass ich schon mal eines gegessen hätte."

Anskar würgte trocken.

Leonora grinste. „Pussy."

„Wurmlutscher", schoss Anskar zurück.

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