Siebenunddreißig

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Auch wenige Tage danach ließ der Brief mich nicht los. Vielleicht hatte Melodie ja recht und ich sollte wirklich noch einmal mit Caleb reden.
Das Problem war nur, dass ich wahrscheinlich weinend zusammenbrechen würde, wenn ich ihn sah.
Seufzend stand ich auf und lief ins Bad, um mich für den Tag fertig zu machen. Ich hatte heute zwar nichts vor aber ich war produktiver sobald ich aus meinen Schlafsachen draußen war.
Als das getan war, machte ich mich daran die Wohnung zu putzen. Das war die beste Methode den Kopf frei zu kriegen, wenn man nicht so sportbegeistert war.
Zwei Stunden später war auch dies getan und ich warf mich für einen Augenblick auf die Couch, denn nicht mal Sekunden später läutete es an der Tür.
Verwirrt sah ich auf meine Wanduhr.
Aaron und Jolene waren um die Uhrzeit normalerweise in ihren Kursen.
Vor der Tür standen dann auch nicht meine Freunde, sondern Lorena, die ich für eine unangenehme Zeitlang nur ansah.
"Hey, ich weiß, es ist unhöflich von mir hier einfach aufzukreuzen aber dürfte ich vielleicht reinkommen?", fing sie an.
Ich nickte erst langsam bevor ich meinen Kopf schüttelte, um mich von meinem Trance-artigen Zustand zu wecken.
"Eh ja klar", antwortete ich schließlich und trat zur Seite damit sie eintreten konnte.
"Habe dir Blumen mitgebracht damit es nicht allzu unhöflich rüberkommt", sprach sie mit einem kleinen Lächeln.
Immer noch baff nahm ich die Blumen an.
"Tee?", fragte ich, was sie höflich annahm.
Ich bat sie ins Wohnzimmer während ich die Blumen in eine Vase tat und den Tee kochte.
Ich musste ehrlich zugeben, von all den Leuten hätte ich mit Lorena am wenigsten gerechnet.
"Welche Sorte hättest du denn gerne?", hakte ich nach.
"Grüner Tee, wenn du den da hast", antwortete sie aus dem Wohnzimmer, was ich befolgte.
Als wir beide uns schließlich mit unseren Tees gegenübersaßen, fing ich an zu reden.
"Woher weißt du eigentlich wo ich wohne?", fragte ich neugierig.
"Hab Xavier gezwungen mir die Adresse zu geben", antwortete sie schulterzuckend.
"Und bevor du mir die wohl wichtigste Frage stellst, nämlich die, was ich hier eigentlich mache dann kann dir jetzt schon sagen keine Ahnung", sprach sie weiter.
Gut...das wäre die nächste Frage gewesen.
"Ich war kurz mit Felipe unterwegs und ich dachte, wenn ich schon mal in der Gegend bin, kann ich bei dir vorbeischauen. Natürlich weiß nur Xavier, dass ich hier bin. Die anderen hätten mich nämlich aufgehalten", erklärte sie ehe sie einen vorsichtigen Schluck von ihrem Tee nahm.
Ich nickte nur, nicht wissend was ich sagen sollte.
"Ich war vor Jahren auch genau in der Position in der du dich gerade befindest weißt du?", kam es nachdenklich von ihr.
Erneut nicht wissend, was ich sagen sollte, sah ich sie fragend an. Dies reichte aber aus damit sie weitersprach.
"Der einzige Unterschied war nur der, dass ich es nicht von Felipe persönlich erfahren habe...", erinnerte sie sich traurig.
"Ich denke manchmal immer noch darüber nach, was es über mich aussagt, dass ich mit einem Mann zusammenlebe der so viele Leben anderer genommen hat. Ist er ein böser Mensch? Bin ich es, da ich mit ihm geblieben bin? Du weißt nicht wie viele schlaflose Nächte ich damit verbracht habe über die Fragen nachzudenken. Pauschal und moralisch gesehen wäre die Antwort 'Ja'. Felipe ist ein schlechter Mensch.
Pauschal und moralisch gesehen bin auch ich ein schlechter Mensch. Ich müsste eigentlich all diese Missetaten melden, ihn in eine Zelle stecken. Aber das Leben ist komplizierter als das. Nicht alles kann pauschal in eine Kategorie geordnet werden. Die Moral und das Verhalten eines Menschen werden beeinflusst durch äußere Umstände. Menschen oder Stämme beispielsweise die irgendwo in einer Parallelwelt ein Lebenlang Kannibalismus betrieben haben, werden dies als normal ansehen während diese bei uns verachtet und als grausam angesehen werden würden. Okay...ehm...vielleicht ist dieses Beispiel nicht das beste aber ich hoffe du weißt worauf ich hinaus will...und dies ist auch keine Entschuldigung für seine Taten. Das was er getan hat ist trotzdem unverzeihlich...Gott, und doch habe ich ihm verziehen", nach der Rede vergrub sie plötzlich ihren Kopf in ihren Händen.
"Gott...ich weiß wirklich nicht warum ich hier bin. Es ist nur...ach keine Ahnung", sprach sie verzweifelt und schüttelte ihren Kopf.
Ich schluckte schwer bevor ich die Frage stellte.
"Wieso bist du mit ihm geblieben?"
Sie sah von ihren Händen auf und blickte mich mit einem undefinierbaren Blick an.
"Derselbe Grund, weshalb ich mich für ihn vor eine Kugel werfen würde", antwortete sie.
Sie schüttelte ihren Kopf.
"Ich bin lieber unglücklich mit ihm als glücklich ohne ihn und ich bin eigentlich fast immer glücklich, wenn ich mit ihm bin", sprach sie.
Wieder einmal fiel es mir schwer etwas dazu zu sagen also nickte ich erneut.
Stille umgab uns als sie in Gedanken zu sein schien und mir die Worte fehlten. Das Gespräch schien mehr für die gewesen zu sein als für mich.
"Na ja, hab dein Ohr genug abgekaut und dich wahrscheinlich noch mehr mit meinem Gefasel verstört...es ist nur...du bist nicht allein. Ich weiß wie du dich fühlst, was du denkst und ich weiß was für eine scheiß Situation das ist. Ich hoffe sehr, unabhängig von der Entscheidung die du treffen wirst, dass es dir bald wieder besser geht und du nicht allzu traumatisiert wegen uns bist", gab sie mit einem traurigen Lächeln von sich und richtete sich dabei auf.
"Wünsche dir noch einen schönen Tag Grace und danke für den Tee", verabschiedete sie sich nachdem ich sie an die Tür begleitet hatte.
"Danke dir auch und gerne", antwortete ich mit einem leicht gezwungenen Lächeln, weil ich immer noch zu perplex von der gesamten Situation war.
Auch mehrere Stunden nachdem sie weg war ließen mich ihr Besuch und ihre Worte nicht los.

Ich war noch bei Jolene im Café gewesen und fuhr nun mit einem Taxi wieder heim. Auf dem Weg zurück fuhren wir an der M4-Company vorbei. Ich wollte gar nicht erst hinsehen, doch meine Augen wanderten dann dennoch auf das Gebäude. Lorena und Felipe standen vor dem Eingang und lachten gemeinsam während er sie von hinten umarmte und versuchte etwas von ihrem Eis zu naschen. Unwillkürlich zogen sich meine Lippen in ein trauriges Lächeln.
Er war ihr für immer und sie seines. Und vielleicht hatte ich mein für immer für immer verloren...

Arrogance. | ✔Where stories live. Discover now