6. Kapitel - Das Meer ohne Wasser

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Vidar konnte jedes einzelne Gramm seiner Ausrüstung spüren. Es waren mehrere Stunden vergangen, seit er Antara, Caligo und Kito zurückgelassen hatte, um dem Odogaron zu folgen. Die kleinen, vertrockneten Pflänzchen, die den Wegesrand am Beginn seiner Reise geziert hatten, waren jetzt blühenden Vertretern ihrer Art gewichen. In der untergehenden Sonne leuchteten ihre Farben. Bis zum Korallenhochland konnte es nicht mehr weit sein. Dennoch beeilte sich Vidar. Er wusste nicht, was hier alles lebte und konnte sich deshalb keine Pause leisten. Im Korallenhochland kannte er sich besser aus. Außerdem gab es dort weitaus weniger gefährliche Monster, vom Legiana abgesehen. Sein Magen rumorte laut. „Still!", zischte Vidar und zog seine Morph-Axt hervor, denn der Anstieg wurde jetzt noch steiler, als er es ohnehin schon war. Als Stütze war sie immer noch perfekt geeignet. Sie war es auch, die einen großen Teil seiner Last ausgemacht hatte. Plötzlich schwebte eine hellblaue Qualle in Vidars Sichtfeld. Das war ein Meduso. Bei seinem ersten Besuch im Korallenhochland hatte er sich so einen gefangen und als Haustier für seine Unterkunft mitgenommen. Seine beiden Zimmergenossen waren davon begeistert gewesen. Er war schließlich der Einzige von ihnen gewesen, welcher das Korallenhochland mit eigenen Augen erblickt hatte. Ob man sein Bett schon einem neuen Jäger zugewiesen hatte? Er schüttelte den Gedanken schnell von sich ab. Mit jedem Meter, den er ging, erinnerte ihn die Umgebung mehr an das wunderschöne Hochland.

Nach etwa einer Viertelstunde erkannte Vidar die Stelle, an der er sich befand. Eine mit Ranken bewachsene Wand türmte sich vor ihm auf. Wenn er die hochkletterte, müsste er auf dem offenen Gebiet angekommen, wo er dem Legiana begegnet war. Weit entfernt schien das alles jetzt, wie ein Traum, der mit jeder Sekunde des Wachseins immer unlogischer wurde. Er hatte sich wirklich verändert. Zum Besseren, wie es schien. Bevor er hochzuklettern begann, ließ er sich in einer Ecke nieder und holte eine Ration Girros-Fleisch aus seinem Beutel hervor. Zusammen mit Antara hatte er sich ein wenig Proviant für seine Rückreise fertiggestellt. Tränke, Rationen und ein paar Nullbeeren. Das war alles, was ein Jägerherz begehrte. Zumindest dann, wenn man von Monster-Edelsteinen und riesigen Waffen absah. Während er aß und sich von seiner Wanderung erholte, verschwand die Sonne gänzlich hinter dem Horizont und die ersten Sterne tauchten am Himmel über Vidar auf. Auch der Mond stand hell und riesig am immer dunkler werdenden Himmel. Sein weißes Licht fiel auf die unzähligen Korallen und nun entfaltete das Korallenhochland seine wahre Schönheit. Fliegende Meduso leuchteten zwischen den Zweigen der Korallen auf und Wiggler – kleine, blaue Würmchen mit lustigen Gesichtern – reckten ihre Köpfe aus der Erde, um das zu tun, was sie am liebsten machten: wackeln. Dieser Ort war so lebendig, selbst bei Nacht. Vidar wunderte sich, ob jetzt Jäger hier umherstreiften und ob sie jagten oder nur forschten. Es war an der Zeit das herauszufinden. Er erhob sich wieder von seinem Platz, wodurch er die Wiggler verscheuchte. Sobald die Morph-Axt sicher auf seinem Rücken verstaut war, begann er das Klettern. Sein Bein bereitete ihm gar keine Probleme mehr. Antara war wirklich ein Schatz. Dennoch hoffte Vidar, dass er fürs Erste nicht noch mehr klettern musste. Seine müden Muskeln schmerzten trotz der ausgiebigen Pause. Er war den halben Tag gewandert und obwohl er sich hier sicher genug fühlte, einen Lagerplatz zu suchen, konnte er nicht rasten. Etwas in seinem Inneren trieb ihn dazu an, immer weiter zu gehen, bis er sein Ziel, die Forschungsbasis, erreicht hatte.

Vor ihm erstreckte sich nun das offene Gebiet vor dem höchsten Berg des Korallenhochlandes. Ein paar Gräser sprossen aus dem Boden, darunter auch die dicken Sporenbäusche mit ihren namensgebenden Bällchen aus Sporen. Wenn sie sich verteilten, konnten sie so dicke Nebel bilden, dass selbst große Monster ihr Zielobjekt manchmal aus den Augen verloren. Tagsüber flogen hier außerdem Vitalwespen umher. Jetzt waren keine von ihnen zu sehen. Vidar richtete seinen Blick gen Himmel. Tausende Sterne glitzerten am Himmelszelt. Etwas weiteres war am Himmel zu sehen. Es war das riesige Luftschiff der Dritten Flotte, welches sich nun drohend und unheilvoll vor den vollen Mond schob. Selbst aus weiter Ferne konnte man die gelb leuchtenden Fenstern sehen. Sie waren winzig wie Sandkörner und dennoch strahlten sie dieses Gefühl von Wärme und Heimat aus. Dort könnte man Vidar mit reichlich Essen versorgen und ein Bett. Ein richtiges, echtes Bett. Keine Schlafkuhle, aus der man jeden einzelnen spitzen Stein heraussuchen musste, um dann von drei weiteren begrüßt zu werden, die noch scharfkantiger und größer waren als ihr Vorgänger. Da musste er jetzt hin, so schnell wie möglich. Seine Erschöpfung fiel von ihm ab. Neue Energie durchströmte ihn und er setzte seinen Weg in die Richtung des Luftschiffs fort. Er war sich nicht sicher, ob es einen richtigen Weg oder zumindest Pfad dorthin gab, aber zur Not könnte er sich auch selbst einen trampeln. Wenn er sich richtig erinnerte, musste er eines der waldigeren Gebiete durchqueren. Davor musste er einen weiteren Abstieg wagen auf der gegenüber liegenden Seite der Ebene.

Vidar wollte gerade von seinem Vorsprung auf den Boden herunterklettern, da fiel ihm etwas auf dem sandigen Boden neben ihm auf. Er bückte sich und befühlte das Etwas mit seiner linken Hand. Rau und hart war es, wahrscheinlich eine Monsterschuppe, aber so eine hatte er noch nicht gesehen. Von der Form her könnte sie zu einer Rathian oder einem anderen großen Flugwyvern gehören, jedoch passte die Farbe nicht. Der Mond wurde gerade von einer Wolke verdeckt und macht es fast unmöglich die Farbe zu erkennen. Sie war auf jeden Fall hell. Vidar steckte die Schuppe ein. Bei besseren Lichtverhältnissen würde er sie genauer untersuchen. Plötzlich hörte er etwas auf der Ebene unter ihm umhergehen und im Sand scharren. Hoffentlich war es nicht der Odogaron, aber dessen Spur hatte er ja bereits hinter sich gelassen und das da unten war viel zu leicht für ein solch schweres Monster. Auf allen Vieren robbte Vidar zum Rand seines Vorsprungs und lugte herunter. Da war ein Jäger, welcher mit einer langen Stange Furchen in den Sand malte. Irgendwie kam er Vidar bekannt vor, doch er erkannte ihn erst, als der Mond wieder zum Vorschein kam. Das Licht strahlte den Jäger an und ließ seine roten Haare wie die untergehende Sonne leuchten. Vidars Herz klopfte schneller und er rappelte sich wieder auf. Mit einem geschickten Sprung landete er direkt vor dem anderen Jäger. Dieser schreckte zurück und hielt seinen Stock vor sich, doch als er die Person vor sich sah, ließ er ihn einfach fallen. Ehe Vidar etwas tun konnte, wurde er in eine kräftige Umarmung gezogen, die er genau so stark erwiderte. „Vidar... Du lebst!", brachte der Rothaarige hervor und hielt ihn eine Armlänge vor sich.

„Ach, Zeron... Ich bin doch so ein Dickkopf, da macht mir ein kleiner Sturz nichts aus!", scherzte Vidar. Zeron verpasste ihm einen leichten Schlag auf den Kopf mit seiner Stange, wobei er aufpasste, dass er ihn nicht mit der daran befestigten Klinge verletzte.

„Ein Dummkopf bist du wohl eher! Man hat dich für tot erklärt!", rief er.

„Deswegen musst du mich nicht gleich mit deiner Insektenglefe schlagen." Vidar rieb die Stelle, an der er geschlagen worden war. Zeron tadelte ihn noch ein wenig, beruhigte sich dann aber. „Rhaach wird dich nie wieder jagen lassen... Aber jetzt komm. In der Forschungsbasis können sie dich vernünftig versorgen.", schlug er vor.

„Musst du nicht deine Quest hier erledigen?", fragte Vidar verwirrt. Zwar würde er liebend gern endlich eine richtige Mahlzeit bekommen, aber deshalb konnte er nicht einfach verlangen, dass Zeron eine Quest abbrach.

„Quest? Nein, ich bin nur hier um ein paar Materialien zu besorgen und meine Fähigkeiten mit der Glefe zu verbessern.", erklärte er und deutete auf die stangenartige Waffe. Dann nahm er Vidar wie ein kleines Kind an der Hand und zog ihn Richtung Luftschiff. „Solange wir noch unterwegs sind, kannst du mir ja erzählen, was genau passiert ist.", bot er an.

Monster Hunter - In den Tiefen des TalsWhere stories live. Discover now