Kapitel 11

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Stumm stand ich an der Tür von Julis Krankenhaus-Zimmer.
Es waren 2 Tage vergangen und ich legte mittlerweile zum dritten Mal meine Hand auf die Klinke.
Kein Mal war ich bisher hineingegangen.
Ich sollte mich deshalb eigentlich schlecht fühlen, aber stattdessen fühlte ich erneut ... nichts.
Ich war nach wie vor einfach nur leer.
Ich wusste, dass meine Frau mich brauchte, ständig hatte sie die letzten Tage nach mir gefragt und alle anderen weggeschickt.
Ich aber konnte nicht in diesen Raum.
Die beiden Male, die ich hier bereits stand, war ich wie gelähmt gewesen. So sehr ich wusste, dass ich ihr das schuldete, es ging nicht.
Wir hatten unser Kind verloren.
Tot.

Ich schloss meine Augen, atmete einmal tief durch und ging durch die Tür.

Juli hatte ihre Augen geschlossen, neben ihr stand das vor drei Stunden gebrachte Mittagessen, das sie nicht einmal angerührt hatte.
Ich sah sie an und spürte - nichts.
Da waren nicht die gewohnten Schmetterlinge in meinem Bauch, da war nicht das Verlangen sie in meinen Arm zu nehmen, ihren Duft einzuatmen oder über ihr Haar zu streichen.
Da war rein gar nichts.
Ich drehte mich abrupt um und wollte das Zimmer wieder verlassen.
Ich konnte hier nicht bleiben.
"Jamal?", ein Krächzen, eher ein Wimmern, hielt mich schlussendlich doch davon ab, aus der Tür zu gehen.
Stattdessen hatte ich meine Hand weiterhin auf der Klinke. Ich kaute auf meiner Unterlippe herum, ehe ich erneut tief einatmete und die paar Schritte in die Mitte des Zimmers zurücklief.
"Hallo Juli.", meine Stimme zitterte. Sie klang kraftlos, emotionslos, müde.

Müde.
Das beschrieb es am besten.
Ich konnte das alles nicht mehr.
Seit 72 Stunden hatte ich kein Auge mehr zu getan.
Ich konnte es nicht.
Ständig spielte sich der Tag vor meinen Augen in Revue ab.
Und ständig kamen diese Stimmen, die ich so sehr zum Schweigen bringen wollte.
Doch es half nichts, egal ob ich meinen Schädel fast eindrückte oder darum flehte, dass sie verschwinden würden.
Sie blieben.
Sie blieben und - lachten mich aus. Verspotteten mich.
Erinnerten mich daran, was geschehen war.
Hielten mich wach.

"Wie geht es dir?", meinte ich schließlich.
Sie sah mich an, ihre Augen fingen an zu schimmern.
Sie wurden immer gläserner, bis eine Träne über ihre Wange kullerte.
Ihr sonst so strahlendes Gesicht, die rosa-roten Wangen, die leuchtenden Augen, alles war ... verblasst.
Sie strahlte nicht mehr, sie war weißer als die Wand hinter ihr und ihre Augen sahen so aus, als hätte sie seit 72 Stunden durchgeweint.
"Ich... Ich brauche dich, Jamal.", sie schluchzte.
Ich sah sie an und lief dann, wie von jemand anderem gesteuert, zu meiner Frau, um ihren aufgerichteten Oberkörper in meine Arme zu nehmen.
Ich legte mein Kinn auf ihren Kopf, während mein T-shirt durch ihre Tränen feucht wurde.

Einige Minuten verharrten wir in dieser Position. Durch ihren schlanken Körper, den sie an mich presste, wurde mir wärmer, aber ich fühlte mich genauso kalt wie zuvor.
"Es...", sie zog ihre Nase hoch, "es tut mir so leid. So leid, Jamal.", ihre Stimme, ihr ganzer Körper, zitterte.
"Hey, pscht.", ich sah sie zum ersten Mal heute richtig an.
"Hör zu, Juli. Du kannst nichts dafür."
"Aber...", sie schniefte.
"Nichts aber. Du bist nicht schuld!"

"Iss was.", ich sah sie auffordernd an.
"Ich hab keinen Hunger."
Ich seufzte.
"Ich schnappe ein wenig frische Luft.", murmelte ich dann und nahm mir meine Traininsjacke von der Lehne des Stuhls, auf dem ich die letzten Stunden verbracht hatte.
"Jamal!", ich blieb stehen und sah sie fragend an.
"Kommst du... Du kommst doch zurück  oder?", sie sah ängstlich aus.
Ich nickte einmal: "Ja, natürlich.", meinte ich dann kurz angebunden.
Ihre Gesichtszüge entspannten sich etwas.
Ich sah sie nochmals kurz an, ehe ich aus dem Raum lief.

Draußen angekommen setzte ich mich auf eine Bank.
Ich strich mir durch meine Haare, ehe ich mein Gesicht in meine Hände legte.
Mein Herz raste.
"FUCK!", ohne es wirklich zu wollen, kam der Fluch aus meinem Mund.
Eine Frau in meiner Nähe zuckte zusammen und sah mich erschrocken an.
"Sorry, ich wollte nicht...", murmelte ich in ihre Richtung.
Sie lief kopfschüttelnd weg.
Während ich ihr hinterhersah, kam von der anderen Seite eine Frau in weißem Arztkittel auf mich zu.
"Herr Musiala?", ich sah sie fragend an.
"Wir würden Ihre Frau morgen entlassen. Allerdings -", sie sah mich mitleidig an, "Dürfte ich mich setzen?", sie sah auf den Platz neben ihr, zustimmend deutete ich ihr an, sich zu setzen.
"Danke.", sie atmete kurz ein, "Allerdings kann so ein Verlust Schäden mit sich ziehen. Und damit meine ich keine physischen, sondern seelische Schäden. Sowohl bei der Mutter, als auch beim Vater. Ich kann Ihnen nichts vorschreiben, aber - ich rate Ihnen dringend, sich Unterstützung zu suchen. Bei einem Psychologen, durch eine Therapie, von mir aus auch durch einen Seelsorger. Ich weiß von Ihrer Frau, dass Sie nicht mehr hier leben, aber es gibt sicherlich auch gute Psychologen in Madrid, die Deutsch oder zumindest Englisch sprechen. Lassen Sie sich helfen!", sie sah mich eindringlich an.
"Danke für den Rat.", meinte ich schlussendlich räuspernd.
Sie nickte und stand langsam auf: "Und Herr Musiala", ich sah sie abwartend an  "Ihr Verlust tut mir unglaublich leid."
"Danke.", meinte ich tonlos.
Ich hatte diesen Satz die letzten 2 Tage pausenlos gehört. Von unsere Familie, von Freunden, von Teamkollegen, von meinen ehemaligen Vorgesetzten und Mitspielern aus meinem Ex-Club, von sämtlichen Real-Madrid-Verantwortlichen und von Fans. Real hatte eine Pressemitteilung rausgeschickt und mich dadurch für die nächsten paar Tage freigestellt.
Auch dort hatte man mir den Rat, zu einem Psychologen zu gehen, erteilt, aber statt wirklich darüber nachzudenken, hatte ich den Vorschlag einfach überhört.
Ich brauchte keinen Psychologen, ich brauchte mein Kind.

Endless love ? - Jamal MusialaWhere stories live. Discover now