Kapitel 36

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31. Dezember
Ein neues Jahr.
Und ich würde keine Sekunde des alten Jahres vermissen.
Es war ein widerliches Jahr gewesen.

Seit meiner Rückkehr nach München lebte ich in einem Hotel.
Lilli wohnte in Jamals und meiner alten Wohnung, ich konnte wohl kaum dort klingeln und sagen „Hey, Jamal und ich haben uns getrennt, ich ziehe wieder hier ein". Zumal ich auch nicht sonderlich scharf drauf war, wieder dort zu sein.
Daher musste ich wohl oder übel hier bleiben, bis ich eine neue Wohnung fand. Das Hotelzimmer war wirklich schön, das Essen top und der Spa Bereich ausgestattet wie in einem Wellness Resort. Aber ich war alleine. Ich traute mich weder meine Freunde zu kontaktieren, noch meine Familie.
Ich war nicht bereit dafür.
Nicht bereit dafür in ihre Gesichter zu blicken, die Worte auszusprechen.
Etwas in mir drinnen hoffte auf eine Nachricht von Jamal heute Nacht, aber ich verbot mir, damit zu rechnen.
Auch hinterfragte ich täglich, ob die Entscheidung bezüglich Pablo die Richtige gewesen war.
Doch so lange ich nicht über Jamal hinwegkam, ergab nichts anderes einen Sinn.
Daher saß ich hier nun mit meinem Laptop und arbeite die Liste meines Chefs ab. Vor einer halben Stunde hatte ich mir Essen bestellt, ich weigerte mich heute auch nur einen Schritt vor die Türe des Hotels zu setzen.

Um halb zwölf legte ich meinen Laptop schließlich zur Seite und nahm mir eine Decke, ein Papier und einen Füller, mit dem ich auf den Balkon ging.
Dort setzte ich mich auf einen der Stühle und starrte auf das Blatt.
Ich starrte einfach nur darauf, bis ich schlussendlich begann, die Jahreszahl in Schnörkelschrift in die obere Mitte zu schreiben und dann alles, was mir in den Sinn kam, darunter aufzulisten.
Neben positiven Dingen wie neue Orte bereist, Spanisch-Kenntnisse aufgefrischt oder neue Leute kennengelernt, tummelten sich nur so die schrecklichen Erlebnisse.
Die wohl schlimmsten Dinge schrieb ich ganz unten hin.
Fehlgeburt
Trennung von Jamal
Und während ich sie hier aufschrieb, sammelten sich in meinen Augen Tränen.
Ich hatte innerhalb von einem Jahr mein Baby und meinen Mann verloren. Meine ganze Familie war in Stücke zerrissen worden.
Ich erinnerte mich an den Tag, als Jamal und ich den positiven Test das erste Mal in der Hand gehalten hatten. Wie glücklich wir gewesen waren und es zerriss mich innerlich.
Wie konnte das alles so schief laufen?
Ich schluchzte nicht, ich wischte die Tränen nicht ab. Ich ließ sie einfach hinuntertropfen und sah dabei zu, wie sie die Tinte meiner aufgeschriebenen Stichworte verwischten.
Nachdem das Wort Trennung schon fast nicht mehr zu lesen war, versuchte ich mich durch Blinzeln zu beruhigen und sah auf die Uhrzeit.
23:59
Nach einem tiefen Atemzug nahm ich mir ein Feuerzeug und wartete auf den Countdown.
Von weitem hörte ich Menschen bereits von 30 runterzählen.
Sie alle klangen fröhlich, lachten. Und ich wünschte mir in dem Moment nichts sehnlicher, als nächstes Jahr genauso glücklich auf das neue Jahr zu warten...
3
2
1
Raketen schossen in die Höhe, aus der Ferne und von anderen Balkonen waren laute und begeisterte Gutes Neues - Rufe zu hören.
Ich zündete derweil meine Liste an und legte sie lichterloh brennend in den Aschenbecher.
Die Knie an mich herangezogen, beobachtete ich das Blatt, wie es nach und nach verbrannte.
Das letzte, was ich durch die Flammen erkennen konnte, war die verwischte Tinte der Trennung.
Ich schluckte schwer.
Das neue Jahr hatte begonnen.
Ohne Jamal.

Am nächste Morgen stand ich schon um sechs Uhr auf, um in das hauseigene Fitnessstudio zu gehen.
Zweieinhalb Stunden trainierte ich, bis ich mich schließlich völlig ausgepowert und verschwitzt auf den Boden sinken ließ.
Die Verausgabung hatte mir gut getan.
Es fühlte sich gut an, etwas zu tun, an meine Grenzen zu gehen und sie zu spüren.
Aber nun hatte ich das Gefühl, nicht mal mehr in mein Zimmer laufen zu können.
Deshalb blieb ich etwa zehn Minuten auf dem Boden liegen, bevor ich mich schließlich aufrappelte, mein Zeug zusammenpackte und mich zurück in mein Zimmer hiefte, um eine lange, heiße Dusche zu nehmen.

Endless love ? - Jamal MusialaWhere stories live. Discover now