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einundzwanzig / twenty-one / vingt et un.-

Ich laufe Richtung Schwesternzimmer, auf der Suche nach meiner Mutter, um ihr zu sagen, dass ich sofort nach Hause gehen werde.

Der Raum ist voll, auch Krankenschwestern, die bis jetzt noch nie in meiner Anwesenheit ihre Schichten hatten, sehen mich an, nachdem ich den Raum betrete.

„Austin", meint meine Mutter lächelnd und kommt auf mich zu. Ihr Lächeln sieht gequält aus und die anderen im Raum scheinen total euphorisch zu sein. Es herrscht ein entspanntes Klima und alle sehen einfach nur glücklich aus.

Ich runzle die Stirn und sehe meine Mutter an. „Was ist hier los?"

Sie blickt in die Runde und seufzt. „Es hat sich schnell herumgesprochen, dass Savannah das Krankenhaus verlassen wird. Sie hat sich viele Feinde hier gemacht und unglaublich viel Aufruhr verursacht. Man kann es ihnen nicht verübeln, dass sie glücklich darüber sind", flüstert sie mir zu und ich zucke zusammen.

„Mum, du kannst sie nicht gehen lassen. Ihre Mutter", ich stocke kurz und denke an vorhin. „Diese Frau ist ein Biest! Ich habe noch nie jemanden gesehen, der widerwärtiger ist."

Sie sieht mich mit einer Spur von Mitleid in ihren Augen an und dreht sich zu den Anderen um. „Ich gehe, Leute. Vergesst nicht, dass ihr trotzdem zum Arbeiten hier seid", sagt sie und die Schwestern winken ihr grinsend zu. Sie sehen alle so gelassen und entspannt aus, und das alles nur wegen einer geplanten Abreise. Ist Savannah wirklich so schlimm mit ihnen umgegangen? Naja, manchmal konnte sie etwas übertreiben und ihre Worte sind immer messerscharf, aber man kann ihr das doch nicht böse nehmen?

„Komm Austin, wir gehen heim." Meine Mutter unterbricht meine Gedanken, während sie ihre Handtasche nimmt und zum Ausgang losläuft. „Was hältst du davon, wenn ich uns etwas Schönes koche und wir diesen Tag vergessen?"

Ihre Augen strahlen und sie lächelt mich breit an. Ich weiß überhaupt nicht mehr, wann meine Mutter zuletzt in der Küche zum Kochen gestanden ist.

„Ich habe keinen Hunger", murmele ich und laufe die Treppen runter. Ich höre noch ein Seufzen, bevor sie mir folgt.

Draußen angekommen öffnet sie die Autotür und ich springe wortlos auf den Beifahresitz. Sie blickt mich vorwurfsvoll an, als ich die Tür zuknalle und mich anschnalle.

„Austin, glaub mir. Es ist besser, wenn du das alles vergisst. Nicht nur den heutigen Tag, sondern alles. Alles seit deinem ersten Tag im Krankenhaus."

Ich ziehe die Augenbrauen zusammen und sehe sie verwirrt an. „Wollt ihr alle so tun, als hätte es sie nie gegeben?"

Sie holt Luft und will mir antworten, doch ich gebe ihr keine Möglichkeit dazu.

„Mum, sie will da nicht hin. Sie ist komplett ausgerastet, als sie den Namen der Stadt gehört hat! Da kannst du ihr doch nicht einfach ein schönes Leben wünschen und ihren kompletten Aufenthalt in der Klinik verdrängen!", meine ich und sie startet seufzend den Motor.

„Savannah ist krank und braucht Hilfe, Austin. Das hast du sicherlich auch schon bemerkt. Und wenn ihre Eltern der Meinung sind, dass man ihr in Melbourne besser helfen kann, ist es vielleicht am besten so. Es ist wirklich besser für sie, wenn sie endlich Hilfe kriegt. Sie ist kein normaler Patient gewesen, magersüchtig war sie auch nicht und man kann Suizidgefährdeten nicht helfen, wenn sie nicht kooperieren. Das ist nunmal so", giftet sie mich an und lenkt den Wagen in eine Kurve.

Ich lache verächtlich auf. „Du redest über sie, als sei sie bereits weg", ich unterbreche kurz meinen Satz und sehe sie fragend an. „Was meinst du mit sie ist nicht magersüchtig?"

Sie zuckt mit den Schultern und fährt in unsere Einfahrt. „Sie hat nicht wirklich Anzeichen für eine Magersucht gezeigt. Wenn sie essen wollte, dann hat sie wieder gegessen. Klar, meist haben es ihre Organe nicht mehr mitgemacht, aber sie hätte gegessen, wann auch immer sie gewollt hat. Das passt nicht in das Bild der Anorexia Nervosa und ich habe das Gefühl, sie wollte sich mit dem Nicht-Essen etwas beweisen. Oder den Anderen. Ich weiß es nicht und genau deswegen sollte sie Hilfe kriegen von Leuten kriegen, die sich mit sowas auskennen und da richtig rangehen können. Denn wir konnten es nicht und ich würde es mir nie verzeihen, wenn ausgerechnet sie daran sterben würde", sagt Mum und starrt auf unsere Haustür. Ihre Worte lassen mich zusammenzucken und ich steige ruckartig aus.

„Austin, warte!"

Ich höre, wie sie die Autotür zuknallt und die Türen verriegelt. Am Eingang holt sie mich ein und blickt mich durchdringlich an.

„Ich weiß, dass du als einziger gut mit ihr auskamst und darüber bin ich wirklich froh. Ich bin froh, dass sie sich wenigstens bei einer Person wohl gefühlt hat. Aber es ist besser, wenn du jetzt auf Abstand gehst. Die Entscheidungen sind gefallen, in ein paar Tagen wird die Schule wieder anfangen und ich will nicht, dass du abgelenkt bist", sagt sie zaghaft, während sie nach ihren Schlüsseln kramt.

Verwirrt sehe ich sie an und schüttle mit dem Kopf. „Du meinst, ich darf mich nicht mal von ihr verabschieden?", frage ich verwirrt und sie nickt.

„Es ist wirklich besser. Das ist unnötiger Stress, ich hätte dich da nie mit reinziehen dürfen." Ihre Stimme bricht und sie sieht mich entschuldigend an. Ich schnaube und dränge mich an ihr vorbei ins Haus. Alles liegt noch so dran, wie ich das Haus mit ihr verlassen habe.

„Ich rufe dich, wenn das Essen fertig ist", murmelt Mum und läuft in die Küche.

„Nicht nötig", sage ich kalt. „Ich habe, wie bereits gesagt, keinen Hunger."

Ich ziehe meine Schuhe aus und laufe die Treppen hoch. Wut übermannt mich, und Trauer und Angst.

Ich würde am liebsten etwas zusammenschlagen, doch den weiteren Ärger mit meiner Mutter kann ich nicht mehr gebrauchen.

Ich lasse mich auf mein Bett nieder und versuche meinen Atem zu kontrollieren. Ich höre, wie unten Töpfe aneinander schlagen und Schranktüren zuknallen.

Der Tag spult immer wieder in meinem Kopf zurück, als säße ich in einem falschen Film. Aber nicht als Zuschauer, sondern als bemitleidenswerter Hauptprotagonist, der nicht weiß, was er tun soll.

Wie könnte ich die Tage vergessen? Alle Tage, die ich im Krankenhaus verbracht habe, können nicht einfach wegradiert werden. Savannah kann nicht einfach wegradiert werden.

Ich seufze und fahre mir durch die Haare. Savannah war schon von sich aus ein kleines Mysterium und ich kann nicht zulassen, dass sie einfach verschwindet und die Leute so tun werden, als hätte sie niemals existiert.

SavannahWhere stories live. Discover now