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zweiundzwanzig / twenty-two / vingt-deux.-

Es ist mitten in der Nacht, als ich immernoch schlaflos auf meinem Bett liege und die Decke anstarre. Mein rechter Arm ist bereits vor Stunden eingeschlafen, aber mein Kopf arbeitet dennoch auf Hochtouren.

Verzweifelt versuche ich eine Möglichkeit zu finden, die Sache regeln und Savannahs Mutter überreden zu können. Doch auch nach stundenlangem Denken komme ich zu nichts.

Langsam aber sicher muss ich mir eingestehen, dass ich damit klarkommen muss. Dass ich an der Situation nichts ändern kann und dass Savannah einfach abgeschoben wird. Vielleicht werde ich sie nie wieder sehen oder nie wieder Kontakt zu ihr haben können.

Der Druck, der aus der ganzen Situation auf mich ausgeübt wird, lässt mich kaum noch atmen. Die Angst, dass Savannah gehen muss, die kommenden Schultage und der damit zusammenhängende alte Tagesablauf und noch so vieles mehr, was meinen Kopf zum Platzen bringt.

Ich taste blind nach meinem Handy, welches ich auf meinen Nachttisch abgelegt habe, und greife nach dem kühlen Gegenstand. Die Uhr auf dem Display zeigt 4 Uhr in der Früh an und ich seufze. Über meinen nicht mehr vorhandenen Schlafrhythmus will ich garnicht erst anfangen zu reden.

Erschrocken zucke ich zusammen, als etwas gegen mein Fenster fliegt. Ein lauter Knall ertönt und ich ziehe die Augenbrauen zusammen. Ein Wunder, dass die Fensterscheibe nicht kaputt gegangen ist.

Vorsichtig stehe ich auf, werfe noch einen kurzen Blick zu meiner Tür, um sicher zu gehen, dass meine Mutter nicht bereits alarmiert im Türrahmen steht, und laufe zum Fenster. Ein weiteres Mal fliegt etwas gegen mein Fenster und ich kann es als Dekostein aus dem Blumenbeet meiner Mutter identifizieren.

Ich blicke runter und entdecke eine Person in einem schwarzen Hoodie und der Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Ihre blonden Haarstähnen, die teilweise zu sehen sind, verraten sie letztendlich. Ein wenig wütend und überrascht reiße ich mein Fenster auf und lehne mich raus.

„Bist du völlig bescheuert? Du hättest die Scheibe damit einschlagen können!", rufe ich, dabei bedacht, niemanden aus der Nachbarschaft und vorallem in meinem Haus, aufzuwecken.

Ich kann ihr Augenrollen förmlich spüren, als sie zu mir hochsieht und die Kapuze nach hinten rutscht. „Fang bloß nicht an zu weinen. Das sind Plastiksteinchen, man", ruft sie in meiner Lautstärke zurück. Man könnte es als lautes Flüstern oder leises Schreien bezeichnen und ich muss lachen, wenn ich daran denke, wie bescheuert das wohl aussehen muss.

„Was willst du? Solltest du nicht in der Klinik sein? Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, lagst du betäubt im Bett."

Sie zuckt mit den Schultern. „Gibt es für mich eine Möglichkeit, hoch zu kommen, ohne mir dabei den Nacken zu brechen?", fragt sie grinsend und ich lache leise. „Du könntest wie jeder normale Mensch durch die Haustüre ins Haus gelangen, aber das wäre dir anscheinend zu langweilig", gebe ich zurück.

„Ach komm schon, so eine Romeo und Julia Situation ist doch verdammt geil."

„Na gut Romeo, wie sieht dein Plan aus?", hinterfrage ich und lehne mich gegen mein offenes Fenster.

Sie sieht sich im Garten um und bleibt mit den Augen an unserer Leiter, die meine Mutter für das Reinigen unserer alten Dachrinne benutzt, hängen. Ich stöhne genervt auf und rolle mit den Augen. Unser Haus ist, wie für Amerikaner üblich, nicht wirklich hoch, aber dennoch ist die Vorstellung idiotisch, dass Savannah durch eine Gartenleiter in mein Zimmer gelangt.

Noch bevor ich protestieren kann, läuft sie zum Gartenhäuschen und hievt die Leiter hoch. Ich kann mir gut vorstellen, wie schwer das Metallding für ihren zerbrechlichen Körper sein muss. Ich beobachte, wie sie sich langsam unserer Hauswand nähert und das Ding dagegen lehnt. Es reicht weit über mein Zimmerfenster, weshalb es für sie kein Problem sein sollte, hier hoch zu kommen.

„Halt mal fest", befielt sie mir und ich greife nach einer Sprosse. Die Leiter wackelt kurz, als sie auf sie draufsteigt und beginnt, hochzuklettern. Sie presst konzentriert die Lippen zusammen und sieht mich durchdringlich an, als sie bei meinem Fenster ankommt.

Verwundert starre ich zurück. Jede Last ist irgendwie vergessen, als ich ihre hellen Augen sehe.

„Willst du da auch mal weggehen und mich reinlassen?", durchbricht sie die Stille und ich pruste los, als ich langsam zur Seite rücke und sie mühsam zuerst auf mein Fenstersims klettert und dann auf den Boden springt.

„Sehr lustig", meint sie augenrollend und lässt sich auf mein Bett nieder. Ich folge ihr und sehe sie fragend an. „Also, Madame, was führt sie in mein Gemach?"

Kurz versteinern sich ihre Gesichtszüge und sie wirkt nachdenklich. Es ist nicht besonders hell im Raum, nur die Straßenlichter und der Mond am Himmel spenden etwas Licht, aber dennoch beobachte und erkenne ich jede Regung ihrerseits.

„Ich werde abhauen, Austin", meint sie seufzend. Verwirrt runzle ich die Stirn. „Wie meinst du das?"

Sie fängt an, an ihrem Nagel herumzuknibbeln. An ihrer knochigen Hand erkennt man das Pflaster, welches wahrscheinlich wegen der Injektion dort klebt.

„Ich werde gehen. Ich lasse nicht zu, dass sie mich wieder in diese Stadt stecken. Und allgemein, ich habe keine Lust mehr, mich von jedem hier herumkommandieren zu lassen. Ich will einfach meine Ruhe", antwortet sie leise.

„Wo willst du denn überhaupt hin?", frage ich verwirrt.

„Zu meiner Tante. Die Schwester meiner Mutter, meiner richtigen Mutter. Seitdem sie tot ist, darf ich keinen Kontakt mehr zu ihr haben, aber wir haben uns nie aus den Augen gelassen", sie macht eine Pause und lächelt traurig. „Ich habe sie immer heimlich angerufen. Dafür musste ich immer mein Zimmer absperren und in den Schrank reingehen, damit es keiner hört. Unsere Wände sind wie Papier. Naja, auf jeden Fall kennt sie die Geschichte, von Anfang an, und sie will mir helfen. Sie wohnt in der Nähe von Melbourne, alleine in einem riesigen Haus."

Ich nicke langsam. So könnte ich noch den Kontakt zu Savannah aufrecht erhalten und sie müsste sich nicht mehr durch den Klinikalltag zwingen, auch wenn sie dringend Hilfe braucht.

„Wieso kennt sie die Geschichte und ich nicht?", frage ich mit einem leicht beleidigten Unterton. Sie lacht leise. „Austin, das ist eine Geschichte, die niemand hören will und die man niemandem wünscht."

„Na gut. Aber versprich mir, dass du anfängst, dir Hilfe zu holen. Und dass du mir schreiben wirst", sage ich grinsend.

Savannah nickt und steht auf. „Ich brauche keine Hilfe, ich habe sie nie gebraucht."

Ein kurzes Schweigen entsteht und ich höre, wie es langsam anfängt zu regnen.

„Vorerst werde ich mich aber zurückhalten mit dem Schreiben. Wer weiß, ob sie mein Handy orten lassen oder anderweitig handeln werden, der Irren traue ich alles zu. Ich will einfach nur noch frei von allem sein. Vielleicht solltest du den Schritt auch endlich wagen. Kontaktier deinen Vater und erfüll dir deine Wünsche, solange du die Möglichkeit dazu hast. Diese Stadt und ihre Bewohner machen krank."

SavannahWhere stories live. Discover now