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vierundzwanzig / twenty-four / vingt-quatre.-

Tatsächlich kommt meine Mutter erst in der Früh heim, während ich immer noch wach in meinem Bett liege und die Wand anstarre. An Schlaf ist nicht zu denken, wie denn auch? Langsam werde ich zu dem, wie ich mich fühle. Ein lebender Toter.

Ich höre, wie sie unten ihre Schuhe auszieht, in die Küche schlurft und dann in ihrem Zimmer verschwindet. Zum ersten Mal stelle ich mir vor, wie es wäre, taub zu sein. Alle schrecklichen Dinge ausblenden zu können und nur noch pure Stille herrschen zu lassen.

Ich verfluche mich für solche grässlichen Gedanken, aber dennoch werden es immer mehr in meinem Kopf. Ich seufze und lausche kurz, ob etwas von meiner Mutter zu hören ist. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie sich fühlen muss. Denn auch, wenn sie es niemals zugeben würde, Mum liegt etwas an Savannah. Ich habe sie noch nie so erlebt, und sie hat sich auch nie so um einen Patienten bemüht.

Wenn ich wegen der Ungewissheit nicht schlafen kann, dann muss sie bereits in ihr ertrinken. Savannah ist wie Fluch und Segen zu gleich, ein egozentrischen Arschloch, welches alles zurückgelassen hat, nur um selbst endlich frei zu sein. Aber dennoch wünscht man sich für sie nichts mehr als das. Man würde ihr sowieso alles ohne zu Zögern verzeihen, wenn man ihr einmal in die Augen gesehen hat.

Stunde für Stunde vergeht und die Sonne bahnt sich ihren Weg durch langsam aber sicher durch. Ich vermute, dass meine Augenringe bereits bis zum Mond und zurück reichen, aber ich bin nicht müde. Jedenfalls nicht derartig, dass man es mit Schlaf stillen könnte.

Als es bereits kurz vor Neune ist, zwinge ich mich zum duschen, um wenigstens ein gut riechender Halbtote statt ein kompletter Zombie zu sein, laufe schließlich runter in die Küche und mache mir meinen Kaffee. Ich habe früher nie geglaubt, dass man von Kaffee abhängig werden kann, aber jetzt fühlt es sich so an, als würde ich den Tag ohne eine große Tasse nicht überleben können.

Nachdem ich die Maschine angemacht habe, höre ich, wie sich meine Mutter der Küche nähert. Mir wird unwohl zumute, da ich nicht wirklich auf sie treffen möchte. Klar weiß ich nicht, wo Savannah ist, aber ich habe zumindest ein paar Anhaltspunkte und diese zurückzuhalten bereitet mir ein schreckliches Gewissen.

„Morgen", murmelt sie, als sie die Küche in ihrem Bademantel betritt. Ich nicke ihr zu und mustere sie. Ihre Haare sind leicht fettig und ihre Haut wirkt irgendwie fahl.

„Warum warst du so lange weg?", frage ich aus Höflichkeit.

Sie seufzt, während sie sich ebenfalls dranmacht, einen Kaffee zu kochen. „Wir mussten es den Eltern sagen, die dann die Polizei gerufen haben. Sie haben uns alle verhört, Savannahs Zimmer durchsucht und letztendlich nichts gefunden außer ein kurzes Video", erzählt sie mir. Stirnrunzelnd sehe ich sie an. „Was für ein Video?", frage ich verwirrt.

Sie muss kurz schmunzeln, bevor sie nach ihrer Tasse greift. „Savannah hatte das Zimmer mit der Kamera, da wir ansonsten keine Kontrolle über sie gehabt hätten. Ich schätze, sie hat sie entdeckt und sie war die meiste Zeit mit Zahnpasta oder sowas beschmiert gewesen, aber anscheinend hat sie, bevor sie gegangen ist, die Linse gesäubert. Es wäre ja schließlich nicht Savannah, wenn sie keinen filmreifen Abgang hinlegen würde. Man sieht nur kurz, wie sie verschwörerisch lächelt und der Kamera ihren Mittelfinger präsentiert, bevor sie dann das Zimmer verlässt", sagt sie und auch ich muss kurz leise lachen.

„Wegen der Sache mit deinem Vater", beginnt Mum und seufzt kurz. Ich versteife mich und sehe sie an. „Ich denke, es wäre wirklich besser, wenn du dir eine Auszeit nehmen würdest. Ich habe mir viel zu lange nicht eingestehen können, dass du deinen Vater vielleicht genauso sehr vermisst wie ich. Und ich möchte dir ihn nicht vorenthalten, falls du das denkst."

Ich runzle die Stirn und frage mich, ob das real ist. Eine weitere Pause folgt, bevor sie weiterspricht. „Er hat einen Zettel mit ein paar Informationen hinterlassen. Er hat es schon länger geplant, weshalb er bereits wusste, wo es hingeht. Ich suche ihn dir gleich raus", meint sie leise.

Nachdem ich ihr Gesagtes realisiert habe, raffe ich mich zusammen und schließe meine Mutter in eine Umarmung. Etwas, was ich seit einer Ewigkeit nicht mehr getan habe, obwohl es so oft fällig gewesen wäre.

„Danke", flüstere ich leise und sie schließt ihre Arme ebenfalls um mich. Nickend löst sie sich und ihre Augen strahlen.

„Man kann es bestimmt irgendwie regeln, dass du da für ein paar Wochen in die Schule gehen kannst oder so. Und selbst wenn nicht, kann man dich kurzfristig bei einer Austauschagentur anmelden", stammelt sie und ich nicke langsam.

Alle Sorgen sind vergessen und ich fühle mich seit Tagen wieder gut. Völlig leer, aber dennoch gut.

Sie deutet mir, ihr zu folgen und gemeinsam laufen wir in ihr Büro.

„Wir müssen es kurz suchen, aber ich bin mir sicher, dass ich ihn aufgehoben habe", erklärt sie mir und beginnt, in einer ihrer Schubladen zu wühlen. Teilnahmslos sehe ich ihr dabei zu, wie sie ihr Büro auf den Kopf stellt.

Es vergeht eine kurze Weile, bis sie einen Zettel herauskramt und ihn prüfend ansieht. „Das müsste er sein", murmelt sie und ich springe auf. Mein Herz rast vor Aufregung, als sie ihn mir in die Hand drückt.

„Mach was draus, Austin", sagt sie, während sie leicht traurig lächelt. Ich nicke glücklich und laufe hoch in mein Zimmer. Vorsichtig lege ich den Zettel auf mein Bett und setze mich, mit meinem Handy bewaffnet.

Ich erkenne die Schrift meines Vaters, auch wenn der Zettel etwas in Mitleidenschaft gezogen aussieht. Sein Name war notiert, seine Adresse und eine Telefonnummer.

Der Adresse nach wohnt er irgendwo in Deutschland. Ich tippe vorsichtig die Nummer ein.

Schlagartig nagen Zweifel an mir. Was, wenn er keinen Kontakt zu mir möchte? Wenn er gegangen ist, weil er keine Lust mehr auf uns, mich hatte? Wenn er jetzt glücklich und zufrieden mit einer neuen Familie irgendwo in Deutschland lebt und mich nicht mal mehr kennt?

Ich schließe die Augen und atme tief durch. Jetzt, wo ich die Chance dazu habe, werde ich sie nutzen müssen.

Ich drücke auf das grüne, kleine Telefon und halte den Atem an. Mein Herz schlägt so laut, dass ich befürchte, dass jeder im Umkreis von ein paar Kilometern es hören kann.

"Hallo?"

Ich zucke kurz zusammen, als die Stimme nach kurzem Warten ertönt. Ich kann mich kaum noch an seine Stimme erinnern, aber es könnte sie sein.

"Hallo", gebe ich zurück und muss mich kurz räuspern. Jahrelang hatte ich keinen anderen Wunsch, als endlich wieder mit meinem Vater reden zu können, aber jetzt viel mir kein einziges Wort ein, welches ich sagen könnte.

"Wer ist da?"

Die Stimme klang leicht genervt. „Ähm, hier ist Austin", stammele ich und möchte mich am liebsten für diesen dämlichen Satz schlagen.

Im Hintergrund hört man laute Rufe, von Kindern und einer Frau. Ob er wohl noch viele Kinder dazu gekriegt hat? Ob es wohl seine Frau ist?

Es wird still, man hört das Schließen einer Türe.

"Austin? Bist du es wirklich? Moment, welcher Austin?", fragt er.

"Ja, ich bin Austin", ich überlege kurz. "Dad?"

Ich habe das Gefühl, dass dieses Gespräch mehr als nur peinlich enden wird.

"Ich glaube das nicht. Wieso rufst du an? Wieso hast du nicht früher angerufen?", fragt er aufgeregt und ich muss kurz lächeln.

Ich beginne zu erzählen, von Anfang an. Vom Tag, an dem er einfach weg war bis zum heutigen. Von meinem Wunsch, meinem Vorhaben und Mums Zustimmung.

"Das würdest du wirklich wollen?", er schweigt kurz. "Nichts lieber als das, Austin. Wir können das regeln. Du glaubst nicht, wie lange ich schon auf einen Anruf warte. Du bist hier immer herzlich willkommen."

Und somit fällt mir der erste große Stein vom Herzen.

SavannahWo Geschichten leben. Entdecke jetzt