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Beinahemühelos schien die Akrobatin in der Luft zu hängen. Sie brach durch Saltos und Drehungen das Gesetz der Schwerkraft. Geschmeidig wirbelte sie immer wieder herum. Es schien ihr nichts auszumachen, es schien sie überhaupt nicht anzustrengen, doch der Schweiß an ihrem Rücken überzeugte vom Gegenteil. Ihr enges Kleid glitzerte im Scheinwerferlicht und strahlte mit ihrem Gesicht um die Wette. Ja, er musste zugeben ihm gefiel das brünette Mädchen dort oben. Hätte er sie in einer Bar getroffen, er hätte sie sicher zu einem Drink eingeladen. Aber er war nicht hier um sich die alberne Zirkusvorstellung anzusehen, oder irgendwelchen Frauen nachzuschwärmen, er hatte wichtigeres zu tun. Sehr viel wichtigeres. Und außerdem hatte er keine Zeit für Frauen, auch wenn er gerne welche hätte, er war irgendwo ja auch nur ein Mann wie jeder andere. Aber wahrscheinlich nur in dieser Hinsicht.

Genervt wandte er sich von dem Mädchen ab und ließ seinen Blick durch das volle Zelt wandern.

Menschen, viele Menschen.

Und irgendwo hier musste sie stecken. Er hatte sich ihr Gesicht genau eingeprägt, das Foto sogar zusammengefaltet in seiner Jackentasche liegen. Doch er wusste er müsse es nicht mehr herausholen. Die Frau, die er suchte, war bildhübsch.  Rabenschwarzes Haar, weiche Gesichtszüge, grün funkelnde Augen.  Er würde diese Frau unter tausend anderen wiedererkennen, das wusste er. Sein fotografisches Gedächtnis war aller erste Sahne. 

Er seufzte. Sie war hübsch, sie war attraktiv, das musste er zugeben. Aber vor allem hat sie keine Ahnung was mit ihr ist. Er seufzte erneut. Und das tat ihm leid. Obwohl das eigentlich nicht sein dürfte, denn sie hatte großes Glück, wenn es nach seinem Vater ging. Eigentlich sollte er sich freuen.

Ihr Name stand in geschmeidiger Schrift auf der Rückseite des Blattes und außerdem ein paar Anweisungen wo er sie finden könnte.  Das Blatt lag heute morgen auf seinem Schreibtisch und jetzt war er hier und suchte sie. Und würde sie beobachten. Und irgendwann, ganz bald, mitnehmen.

Den Zettel hatte sicher diese Sekretärin geschrieben, wie hieß sie noch gleich? Annie, Alba, Amy? Er konnte sich beim besten Willen nicht an ihren Namen erinnern, aber er wusste noch, dass sie ziemlich vernarrt in ihn war. Sie machte das zu keinem Geheimnis. Jeder wusste es. Er wusste es und sie wusste, dass er es wusste und es war ihr egal. Und es war okay für sie beide so wie es war. So lange es bei den dahin schmelzenden Blicken, dem Erröten beim Sprechen und den leisen Seufzern blieb, konnte er gut damit leben.

Der junge Mann stieß sich von der Zeltwand ab und trat einen Schritt näher an das Geschehen. Hinter ihm wurde empört gezischelt, doch ein warnender Blick seinerseits und die Menschen waren verstummt. Beinahe hätte er losgelacht – es war immer wieder erstaunlich was für eine Auswirkung er auf andere hatte. Er genoss diese Art von Respekt und nutze ihn in vollen Zügen aus. Er hatte das von seinem Vater abgeschaut und nutze seine Wirkung auf andere Menschen seit er denken konnte.

Ein tosender Applaus und ein Wechseln der Musik riss ihn wieder aus seinen Gedanken. Mein Gott, warum war er heute nur so abgelenkt? Ihr Gesicht. Es ging ihm nicht aus dem Kopf. Er versuchte sich ihre Stimme vorzustellen. Was sie wohl konnte? Was war ihre Gabe? In jedem Fall musste sie außergewöhnlich sein, da war er sich sicher.

Die Brünette verbeugte sich lächelnd nach allen Seiten und es schien ihm als hätte sie ihm nochmal eine extra Kusshand zugeworfen. Auch er hatte geklatscht- ganz automatisch und als sie in seine Richtung sah zwinkerte er ihr einmal kurz zu. Galant verließ sie den Schauplatz und machte die Manege für einen kleinen Mann mit Zottelmähne frei. Er gestikulierte wild mit seinen Armen und fiel anschließend auf sein gut ausgebautes Gesäß. Die Menge begann zu jubeln und lachte begeistert, als der Clown nach einem weiteren Versuch wieder aufzustehen erneut hinfiel.

Das war ihm wirklich zu blöd, wie konnte man das nur witzig finden? Da war die Brünette wirklich besser gewesen.

Er schüttelte nur entgeistert seinen Kopf und beobachtete weiterhin die Zuschauer, er war immerhin nicht zum Spaß hier, auch wenn er sich das tausendmal verinnerlichen musste heute Abend.

Wann war er zum letzten Mal im Zirkus gewesen? War er überhaupt jemals in einem Zirkus gewesen? Ja, gut möglich, aber es musste lange her sein. Vielleicht mit fünf, sechs Jahren. Damals war es etwas besonderes gewesen, etwas einzigartiges. Spaß war seinem Vater nie wichtig gewesen. Härte, Strenge und Disziplin. Damals hatte er sich heimlich rausgeschlichen und es war die schönste Kindheitserinnerung überhaupt für ihn. Doch als er heute nach Jahren zum ersten Mal wieder ein Zirkus betreten hatte, war er enttäuscht gewesen. Der Zirkus war zum Geschäft geworden. Und es nervte ihn. Es nervte ihn, weil hier lauter Menschen waren und er Menschen nicht ertragen konnte. Weil sie ihn neidisch machten. Weil sie Dinge machen  konnten für die er keine Zeit hatte und weil sie einfach in einen beschissenen Zirkus gehen konnten um Spaß zu haben und nicht um eine verdammte Frau zu suchen! Wann hatte er das letzte Mal etwas gemacht weil es Spaß machte? Wann?

Erließ den Blick durch die Menge gleiten. Wo bist du Prinzesschen, wo steckst du nur?

Und dann sah er sie plötzlich. Sie saß im Schatten eines Balkens und ihr Kopf war auf ihr Zeichenblock in ihrem Schoss gerichtet, aber durch die einzelnen Haarsträhnen, die ihr ins Gesicht fielen konnte man die grünen Augen erahnen. Immer wieder blickte sie auf und zeichnete mit fließenden Bewegungen das Gesehene ab. Sie strahlte solch eine Ruhe aus, dass er nicht aufhören konnte sie anzustarren. Nach einigen Minuten war sie fertig mit ihrer Skizze. Kurz sah sie sich die Zeichnung mit prüfendem Blick an. Dann schloss sie den Block, packte ihn in ihre Tasche, stand auf und ging ohne sich umzudrehen. Ihre schmale Gestalt verschwand zwischen den Menschen und als er sah, wie sich ganz hinten die Zeltwand ein wenig zur Seite schob, wusste er, dass sie endgültig gegangen war. Und er blieb sitzen. Starrte auf den Platz, auf dem sie gerade noch gesessen hatte. Ihre Haare. Ihre Hände. Diese Ruhe. Sie war nicht einfach nur hübsch. Er hatte schon viele hübsche Frauen gesehen. Sie war anders und er wusste nicht was sie mit ihm gemacht hatte. Er hätte ihr stundenlang zuschauen können.

Erst nach einem erneuten Applaus konnte er den Blick von ihrem Platz abwenden. Langsam realisierte er was geschehen war. Das war ihm noch nie passiert. Das durfte nicht sein! So eine verdammte scheiße! Wütend sprang er auf und rannte zu ihrem Platz. Zuschauer, die ihm im Weg waren, stieß er einfach zur Seite. Sein Vater würde sauer sein. Das durfte er nie, niemals erfahren. 

Unter der Bank lag ein langer, dünner Pinsel. Er hob ihn auf uns strich behutsam über die weichen Pinselhaare. Ein geschlungenes L zierte das Holz. Sie hatte ihn vergessen. Er schaute erneut auf den Boden. Nicht weit entfernt von der Stelle, an der er den Pinsel gefunden hatte lag, neben ein paar Cookiekrümmeln eine Serviette. Café Zeitlos stand in einer Ecke. Darunter Adresse und Öffnungszeiten. In der Mitte der Serviette hatte jemand mit blauem Kulli ein paar Blumen gezeichnet, die sich um eine große Rose in der Mitte rankten. Das konnte nur sie gezeichnet haben.Gott sei Dank. Er hatte eine neue Spur, sein Vater würde nichts erfahren.

Er sprang auf uns wandte sich Richtung Ausgang. Er würde sich morgen um alles andere kümmern und seinen Vater anrufen. Gott sei Dank konnte er endlich diesen Zirkus verlassen.

Ultramarinblau #yellowaward2019Where stories live. Discover now