Nach der ganzen Aufregung war es merkwürdigerweise erst einmal ruhig. Liv wusste auch nicht recht was sie erwartet hatte. Es war natürlich klar, dass sie nicht auf einmal, wie in einem Holywood-Film in böse Schießerein hineingeriet, nur weil sie einmal ein Verbrechen beobachtet hatte, aber dass ihr Leben einfach so weiter ging hatte sie auch nicht gedacht. Eigentlich sollte sie froh darüber sein, dieser Mann hatte ihr immerhin einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Und sie nebenbei gesagt fast getötet. Liv war auch ein ganz klein wenig stolz auf sich, normalerweise war sie nicht so mutig und eher ein ruhiger Typ.

James hatte endlich aufgehört zu fragen warum sie auf einmal wie eine Wilde aus dem Cafe gerannt war und hatte sich mit ihrer Notlüge - die gar nicht mal so schlecht war- dass ihr auf einmal übel wurde und sie an die frische Luft musste- zufrieden gegeben. Ihre Mutter war noch ein bisschen stinkig gewesen, weil sie nicht zum Abendessen da gewesen war und auch nicht rechtzeitig abgesagt hatte, aber ihre Mutter war seit der Sache mit dem Kunststudium sowieso unmöglich zu ihr, also machte das auch keinen großen Unterschied mehr und Liv konnte damit umgehen. Irgendwie war zuhause sowieso schon alles verkorkst.

Vic hatte ihr bei ihr bei ihrem abendlichen Telefonat belustigt erzählt wie sie sie in dem Hinterhof gefunden hatte und dass James völlig aufgelöst neben ihr gestanden hatte und schon am Überlegen war ob Mund-zu-Mund-Beatmung nötig wäre oder ob Liv einfach nur eine Show abzog. Liv hatte sich gezwungen mitzulachen, obwohl ihr gar nicht danach war. Sicher musste der Anblick von einem nervösen James in so einer Situation zum Totlachen gewesen sein und hätte sie die Vorgeschichte nicht gekannt hätte sie bestimmt genau so unbeschwert gelacht wie Vic es tat. Aber so war es eben nicht. Wenn der Dreadlock-Typ nur ein bisschen mehr Chloroform auf sein Tuch getan hätte, dann wäre sogar die Beatmung zu spät gewesen, dann hätte ihr gar nichts mehr geholfen. Der Gedanke war schrecklich und noch viel schrecklicher war die Tatsache, dass ihr niemand, wirklich niemand glaubte.

Dann war da noch diese komische und unglaublich peinliche Situation mit diesem Typen. Liv erwischte sich immer wieder dabei, wie ihre Gedanken abschweiften und immer wieder bei ihm landeten. Er sah gut aus, wirklich gut und wahrscheinlich war es ihm selbst auch bewusst, aber er war trotzdem so nett zu ihr gewesen und gleichzeitig auch... nervös? Er war nicht nervös, warum sollte jemand bei deinem Anblick nervös werden? Liv mochte ihren Körper nicht, ihre Haare waren ihr zu schwarz und ihr Gesicht zu blass. Sie fühlte sich wie ein Gespenst die meiste Zeit und dass ihr Vater sie liebevoll Schneewittchen nannte machte es auch nicht besser. Andererseits hatte er ihren Namen gekannt, sie sogar damit angesprochen. Sie schüttelte sich. Das musste aufhören.

Sie hoffte bei jedem Mal, dass Tür in dem Café aufging, dass es die alte Dame war und sie sich endlich vergewissern konnte, dass sie es rechtzeitig weggeschafft hatte und in Sicherheit war. Und sie konnte es nicht lassen an jeder Ecke nach ihr zu schauen. Mit jedem Tag wuchs ihre Ungeduld und sie war eines Abends nach der Arbeit kurz davor einfach das Polizeigebäude zu stürmen und diese blöden Polizisten zu finden und zur Rede zur Stellen. Sie hatte recherchiert, sogar alte Zeitungen aus dem Müll gefischt um nach einer Nachricht über den Vorfall mit der Frau zu finden, aber nein. Nichts und wieder nichts.

Zuhause war sie auch kaum noch, lungerte bis Ladenschluss im Café herum und verschwand zuhause sofort in ihrem kleinen Dachzimmer. Und auch dort hörten die Gedanken nicht auf. Um sich abzulenken suchte sie noch Kunsthochschulen im Umkreis und nach bezahlbaren Wohnungen und Wg-Zimmern. Auch dabei war sie nicht sonderlich erfolgreich. Ihre Mutter ließ sie zum Glück in Ruhe, nur ihr Vater kam sie einmal abends besuchen. Das restliche Haus schlief bereits, nur sie beiden Nachteulen, wie ihr Vater sie nannte waren noch wach. Sie wusste durch das Knarzen der Treppenstufen, dass er kam noch bevor er anklopfte.

"Herein.", murmelte sie und klickte die Nachrichtenseite ihrer Stadt weg und öffnete stattdessen das Fenster mit den Wohnungsangeboten. Ihr Vater kam und setzte sich zu ihr ans Bett. Sein Hemd hatte er gegen ein altes Schlabbershirt irgendeiner alten Rockband ausgetauscht und seine flinken Augen musterten sie.

"Stress?", fragte er nach einer Weile.

Stress? Stress? Das konnte man wohl so sagen.

"Geht." , sagte sie und zuckte mit den Schultern. Sie wollte niemanden belasten. Nun sah er sich in ihrem kleinen Zimmer um. Sein Blick glitt von ihrem voll gepackten Schreibtisch zu ihrer Staffelei über ihren mit Klamottenbeladenen Sessel zu ihrem vollen Bücherregal und blieb schließlich an eins ihrer liebsten Bildern hängen. Auf den ersten Blick waren keine Formen oder Gestalten zu erkennen, nur Farben und ihre Verläufe. Doch je länger man das Bild betrachtete - und das tat ihr Vater gerade - erkannte man zwei Menschen, die einander in den Armen hielten. Ein Mann und eine Frau. Sie wusste nicht mehr genau wie das Bild entstanden war, denn sie hatte so vertieft gearbeitet, dass sie erst zu sich kam als das Bild fertig war. Endlich sagte ihr Vater etwas.

"Es ist unglaublich."

"Was Dad?"

"Das Bild. Es ist unglaublich."

Er stand auf um es sich näher anzuschauen, strich bedächtig über die Farbe und drehte sich dann seufzten zu Liv um. Diese hatte sich inzwischen aufgerichtet und ihrem Vater gespannt zugesehen.

"Du solltest zu dieser verdammten Kunsthochschule gehen. Es wäre eine Schande so ein Talent wegzuwerfen." Er beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Liv war viel zu perplex um ihm zu antworten. Als er zur Tür ging murmelte er mehr zu sich als zu Liv: " Ich hab dich sowieso nie in einem Kittel gesehen."

In dieser Nacht schlief Liv zum ersten Mal seit dem Vorfall wieder tief und fest.

Ultramarinblau #yellowaward2019Where stories live. Discover now