1. 2 - Slash

11.8K 497 49
                                    

Slash


Sie waren gerade erst angekommen und schon jetzt kam ihm hier alles bizarr vor. Slashious hatte immer wieder Kontakt mit der Welt der normalen Menschen, aber von Mal zu Mal erschien sie ihm eigenartiger. Besonders in den letzten paar Jahren. Nun liefen immer alle mit diesen Dingern durch die Gegend, die sie Handys nannten, tippten darauf herum oder redeten irgendwelches Zeug rein. Als ob das jemanden interessieren würde.

Slashious mischte sich nicht oft unter Menschen und wenn er einen Auftrag hatte, dann bestand der meist darin, sich abseits von Städten oder Siedlungen in ein Gefecht zu stürzen. Kämpfen war das, was er konnte und was ihm eine Form von Befriedigung verschaffte. Seit einiger Zeit schon, seit damals... Slashious musste die Zähne fest zusammenpressen, bis sie fast knirschten, um seine Gedanken und Gefühle hinunterzuschlucken.

Nicht jetzt, nicht hier! Am liebsten wäre er zu Hause geblieben oder hätte irgendwo gekämpft, auf Schädel eingeschlagen oder ein Messer geschwungen. Aber nein - Pure war für den Auftrag ausgewählt worden und somit saß auch er hier fest.

Ebenso wie Sky, der seinen ersten eigenständigen Auftrag ausführen durfte. Er war schon einige Male mit Pure, ihm selbst oder anderen auf Missionen gewesen und kannte sich ebenso gut in der Menschenwelt aus wie sie. Bislang war aber immer ein Aufpasser an seiner Seite gewesen, doch nun durfte er weitgehend eigenständig handeln. Sein Vorteil bei dem Auftrag war, dass er das richtige Aussehen hatte, um sich noch als Siebzehnjähriger ausgeben zu können. Das würden sie hier brauchen, um ohne Verdacht zu schöpfen bei den Jugendlichen im Heim herumschnüffeln zu können. Slash und Pure sollten von Seiten der Lehrer Ausschau halten und Sky als einer der Bewohner, um somit schneller ihr Vertrauen zu erlangen.

Sky rempelte ihn absichtlich mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht an. »Slash! Jetzt steh hier nicht so rum wie eine Vogelscheuche! Grübeln kannst du nachher auch noch. Los komm, komm, komm! Lass uns die Operation ›Heimkehrer‹ durchführen! Ich bin schon so gespannt, wie das wird.«

Sein jugendliches Gesicht erstrahlte voller Vorfreude und Skys grasgrüne Augen blitzten aufgeregt, während seine haselnussbraunen Haare leicht wippten. Slash seufzte und ein bekanntes Pochen kündigte sich in seiner Schläfe an. »Sky, beruhig dich. Erstens hat unsere Operation keinen Namen und wenn, dann bestimmt nichts so Offensichtliches wie ›Heimkehrer‹.« Seufzend schüttelte Slash den Kopf. Irgendjemand musste Skys Übermut dämpfen, um nicht alles zu gefährden. »Zweitens, konzentrier dich und hör auf, wie ein Verrückter herumzuhüpfen. Wir dürfen keine Aufmerksamkeit auf uns lenken. Verstanden?«

Sky kam wieder näher an ihn heran und umkreiste Slash. Dabei zupfte er ihn kurz, aber schmerzhaft, an einer seiner schwarzen Dreadlocks, die er mit einem Lederband locker zusammengebunden hatte und die zwischen seinen hellbraunen Schultern lagen. »Verdammt! Sky ...«

Hastig schnitt Sky ihm das Wort ab. »Ja, ja, ich weiß, Kumpel. Ruhe und Konzentration. Bla bla bla ... Wie oft möchtest du mir das öde Mantra noch vorbeten? Sei nicht so ein Spielverderber. Wir wollen hier auch unseren Spaß haben. Ich weiß, du wolltest lieber einen anderen Auftrag, wo du Ungeheuer töten kannst und viel Blut spritzt. Aber jetzt sind wir hier. Sieh es als eine Art Urlaub.«

Sky stellte sich vor ihn und hob eine Augenbraue, als würde er auf eine Retourkutsche von Slash warten - die er auch prompt erhielt. »Richtig, du hast es erfasst. Ruhe und Konzentration! Du kannst hier kein Theater veranstalten wie ein ...«, sagte er, als im selben Moment Pure aus dem Zimmer stürmte, das sie als Lehrkraft im Heim zugeteilt bekommen hatte. Ihre eisblauen Augen schossen Blitze in ihre Richtung. »Jungs, haltet die Klappe! Ihr seid viel zu laut. Euch kann man überall hören. Konzentration und Ruhe. Und jetzt los!«

Mit schnellen Schritten marschierte sie an ihnen vorbei und eilte den Flur in Richtung Aula entlang, ohne einen Blick zurück zu werfen. Sky trottete mit eingezogenem Kopf und roten Wangen hinterher, während Slashs Hände sich zu Fäusten ballten und er leise murrend folgte: »Das Gleiche habe ich gerade gesagt.«

***

Die Kinder und Jugendlichen im Heim waren bereits ausgiebig mit ihrem Mittagessen beschäftigt, als er Pure und Sky in den Speisesaal folgte, der gleichzeitig die Aula war und somit den einzigen großen Raum für alle wichtigen Aktivitäten und Feiern darstellte. Sky bog bereits einige Tische vorher ab und suchte sich einen freien Platz unter den Jugendlichen. Sie hatten mit ihm wirklich eine geeignete Wahl getroffen; er passte gut hinein und wirkte nicht im Geringsten deplatziert. Wohingegen Slash sich wie eine verfluchte Witzfigur vorkam - in der steifen, unbequemen Hose, mit zugeschnürten Schuhen und einem braunen Pullover, der an seiner Haut kratzte. Er vermisste seine Sandalen und das weiche, offene Leder um seinen Körper.

Pure und er nahmen am Tisch der Heimleitung und Lehrer Platz. Sofort vertiefte sich Pure in ein Gespräch mit den anderen Lehrkräften. Sie ging seines Erachtens etwas zu zielstrebig an die Sache, schoss es ihm durch den Kopf, als er einen Teil ihrer Unterhaltung mithörte. »Sind in letzter Zeit viele Jugendliche aufgenommen worden?« ... »Aha, wie heißen die?«

Typisch Pure. Sie sprach nicht viel, aber wenn, nahm sie nie ein Blatt vor den Mund und war so direkt, dass ihm manchmal die Spucke wegblieb. Nicht nur, weil sie ehrgeizig und stur war, sondern auch der ungeduldigste Mensch, den Slash kannte. Sogar schon als Kind. Wenn sie damals zu dritt mit ihrem Bruder Fio Verstecken gespielt hatten, hatte sie nach zwei Mal Suchen einfach aufgehört und war mit den anderen Jungs Fangenspielen oder sich gegenseitig mit Beeren abschießen gegangen. Und er und Fio hatten stundenlang in den blöden Verstecken ausgeharrt, bis sie von den Erwachsenen zum Abendessen gerufen wurden.

Wieder erreichte ihn ein Gesprächsfetzen aus Pures Richtung: »Haben Sie besonders talentierte Kinder?« ... »Interessant, ist Ihnen dabei etwas ›Komisches‹ aufgefallen?«

Bei den Göttern, das war definitiv nicht die langsam herantastende Art, von der sie vorhin gesprochen hatten. Unter dem Tisch gab er ihr einen Stoß gegen das Schienbein. Als sie zu ihm herüber blickte, bedeutete er ihr unauffällig mit der Hand, dass sie etwas langsamer machen sollte. Pure verzog zwar kurz den Mund und er konnte ihren Unmut in den eisblauen Augen aufblitzen sehen, aber sie nickte leicht, so dass nur er es sehen konnte. Als sie sich wieder an ihren Gesprächspartner wandte, war von ihrem stillen Disput nichts mehr zu merken. Während Pure sich nun subtiler mit dem Kollegium austauschte, um sich Informationen zu besorgen, ließ Slash den Blick über die Menge schweifen. Irgendwo hier musste jemand sein, der so war wie sie, hier im gleichen Saal. Aber wer nur?

Es waren geschätzte dreihundert Jugendliche und einen davon mussten sie finden, ohne dass es jemand von den anderen mitbekam. Schwierig, aber nicht unmöglich. Sein Blick wanderte zu Sky hinüber, der zwischen einem molligen, blonden Mädchen und einem dunkelhaarigen, hochgewachsenen Jungen saß. Sky schüttelte leicht den Kopf und Slash schaute sich weiter um. Aus der ganzen Masse fielen ihm nur zwei Jugendliche auf. Einerseits ein blonder Junge, der in der Mitte des längsten Tisches saß und die Aufmerksamkeit der Umliegenden mit lauten Sprüchen und fuchtelnden Händen auf sich zog. Und am Ende eines Tisches, auf der anderen Seite des Raumes, saß ein Mädchen mit traurigen, schräg liegenden Mandelaugen und fein gezeichneten Gesichtszügen. Ihre Haare waren unachtsam zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Nach ein paar Zentimetern dunklen Ansatzes konnte man die leuchtend violette Farbe ihrer Haare erkennen. Sein Blick blieb an ihr haften und wollte sich nicht mehr lösen. Nicht wegen ihres extrem schönen, exotischen Gesichts und nicht, weil er glaubte, sie sei diejenige, die sie suchten, sondern weil sie eine unglaubliche Traurigkeit ausstrahlte. Er konnte den Schmerz in jeder ihrer Bewegungen sehen. Als sich ihre Blicke für einen Moment kreuzten, war es zu viel für ihn und er musste den Blick senken, weil er die quälende, auffressende Art von Schmerz nur zu gut kannte.

***

Essenz der Götter I - XXL Leseprobe Où les histoires vivent. Découvrez maintenant