4.1 - Loreen

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Mit hämmerndem Herzen schreckte Loreen mitten in der Nacht hoch und erwartete jeden Moment von etwas angesprungen zu werden, das in den Schatten des Zimmers auf sie lauerte. Doch ihre Fantasie hatte zu vorschnell gehandelt, denn sie erkannte, dass das vibrierende Handy der Übeltäter war. Sie sah auf ihre Uhr und stellte fest, dass es erst drei Uhr nachts war. Auf dem Handydisplay erschien Jamies Name. Mit einer zittrigen Hand strich sie sich eine Strähne aus den Augen, mit der anderen nahm sie das Telefon, das ihr dabei fast aus den Fingern glitt. Sie musste jetzt ruhig bleiben, er würde das schon verstehen. Ein Mal biss sie sich noch auf die Unterlippe, dann hob sie ab. »Hallo, Jamie? Alles okay bei dir? Warum rufst du mich mitten in der Nacht zurück?«

»Hey Götterbotin, tut mir leid. Ich konnte vorhin nicht abheben. Bist du alleine?«

Loreen unterdrückte ein Gähnen und antwortete verwirrt: »Natürlich, ich bin im Bett. Es ist drei Uhr, ich habe geschlafen.«

»Oh, gut, gut. Ich habe nämlich eine Überraschung für dich. Könntest du kurz das Licht in deinem Zimmer einschalten und dann aus dem Fenster schauen?«

Noch im Halbschlaf folgte sie seinen Anweisungen: Licht an, Fenster auf und nach draußen lehnen. Ihr Gehirn war im Zombiemodus, nur auf Notfallfunktion eingestellt und sie konnte sich in dem Zustand keinen Reim aus seinem Verhalten machen. Schlaftrunken blinzelte sie ein paar Mal, rieb sich die Augen und versuchte in der Schwärze der Nacht etwas zu erkennen. »Jamie. Was soll das? Ich bin total fertig. Kann ich dich morgen ...«

Plötzlich hörte sie ein Rascheln, dann schlich sich ein Schatten durch die Büsche und als die Gestalt ins Licht trat, flog Loreen das Handy aus der Hand. »Jamie! Was ...?«

Sein Lächeln erstrahlte von einer Seite bis zur anderen und er schritt auf das Fenster zu, in dem sie immer noch ungläubig stand. »Julia, oh süße Julia! Könntest du vielleicht einen Schritt zur Seite treten, damit dein Romeo hinein kann?«

Auf wackeligen Beinen machte sie ihm Platz und konnte nicht fassen, dass Jamie vor ihr stand. Wie lange ist es her, dass ich ihn das letzte Mal gesehen habe? Schon Monate!

Als er durch das Fenster geklettert war, schlang er die Arme um sie und Loreen konnte vor Überraschung nicht anders, als ihn ebenfalls zu drücken. Er war genauso, wie sie ihn in Erinnerung hatte, mit seinem sonnenfrischen Duft. So blieben sie einige Zeit schweigend stehen, doch als er sich zu ihr hinunter beugte und ihr einen Kuss gab, löste sie sich aus der Umarmung. Das war nicht das, was sie wollte oder tun sollte. Sie musste Jamie die Wahrheit sagen und ihm ihre Entscheidung mitteilen. Aber nicht sofort, dazu fehlte ihr gerade der Mut. »Was machst du hier, Jamie? Und wie hast du mich gefunden?«

Beide setzten sich auf Loreens Bett und ließen die Beine über die Kante baumeln. »Du hast dich gestern so traurig angehört, als ob etwas Schlimmes passiert wäre. Da habe ich mir Sorgen gemacht und mich entschlossen hierher zu kommen. Ich wusste, wo du ungefähr sein müsstest und es ist nicht so schwer, ein gemietetes Haus in einer Kleinstadt zu finden, wenn man eine ungefähre Personenbeschreibung hat. Jedenfalls habe ich gewusst, dass ich zu dir muss, um dich hier raus zu holen. Ich habe dich vermisst.«

Er sagte das mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte Loreen schreiend nach seiner Hilfe gerufen. Aber das habe ich nicht.

Ihr stockte der Atem und sie wusste nicht, was sie sagen oder wie sie ihm die Wahrheit beibringen sollte, ohne sein Herz zu brechen. Bekümmert sah sie ihm in die Augen, doch er deutete es falsch. Fürsorglich strich er ihr das Haar hinters Ohr und nahm ihre Hände. »Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Lass uns abhauen. Es wird alles gut, wir zwei können gemeinsam ein neues Leben aufbauen. Du brauchst die nicht und ich brauche meinen Dad auch nicht mehr. In drei Wochen bin ich volljährig und bis dahin tauchen wir unter. Komm mit mir, bitte.«

Essenz der Götter I - XXL Leseprobe Where stories live. Discover now