6.4 - Loreen

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Erschrocken fährt Loreen aus ihrem Traum hoch und schnappt mit wild schlagendem Herzen nach Luft. Langsam kommt sie wieder zur Besinnung, erkennt Umrisse im Halbdunkel des Raumes und vernimmt das stetige Klopfen an der Tür. »Ja, wer ist da?«
Die Stimme von Slash dringt durch die Tür: »Es ist Abend.«
Er klingt kühl und distanziert. »Ich habe gesagt, dass ich dich zum Essen abhole.«

Seine Worte dringen in ihren Kopf und könnten in einem Paralleluniversum für Außenstehende beinahe so verstanden werden, als hätten die beiden eine Verabredung. Aber Loreen schüttelt den lächerlichen Gedanken ab - nicht in dieser Welt oder in diesem Leben. Das ist aus dem Tonfall in Slashs Stimme deutlich zu erkennen. Loreen klettert mit schweren Gliedern aus dem Bett, noch komplett mit den Klamotten von gestern bekleidet. Eigentlich hat sie sich vorgenommen alle ihre Sachen im Schrank zu verstauen, sich gründlich zu waschen und umzuziehen. Aber als Slash sie alleine gelassen hatte, wurde sie von der Müdigkeit überrollt und sie hatte den Kampf ohne großen Widerstand aufgegeben.

Was kein Wunder war, denn sie war totmüde gewesen. Zuerst zwei Tage ohne ausreichend Schlaf, dann die neuen Eindrücke auf der Insel, als alles Schlag auf Schlag gegangen war und nun ist sie hier, in ihrer eigenen Hütte im Nirgendwo und wird von einem heißen Kerl zum Essen abgeholt. Allerdings ist dieser Kerl ein riesiges Arschloch und kann grimmiger schauen als das Phantom der Oper - und das hat bekanntlich ein entstelltes Gesicht. Aber heiß ist Slash dennoch und der Gedanke wurmt Loreen. Am liebsten würde sie ihn gar nicht beachten, durch ihn hindurch sehen, aber das war schier unmöglich.

Wieder auf sich konzentriert, streicht Loreen ihr zerknittertes, schwarzes T-Shirt glatt und kämmt sich mit den Fingern durch die langen Haare. Erst dann öffnet sie ihm die Tür. Slash trägt das gleiche Ledergewand wie zuvor. Seine schwarzbraunen Dreadlocks sind mit einem Lederband zusammen gehalten und sein neuerdings getrimmter Bart, der über das Kinn dünn zur Oberlippe und seitlich wieder hinab führt, glänzt schwarz im schwachen Licht der Abenddämmerung. In seinen Händen hält er einen Stapel aus Stoff, den er ihr reicht. »Hier. Die Kleidung dürfte dir meiner Einschätzung nach passen.«

Skeptisch blickt sie auf die Stoffteile und dann wieder hoch zu Slash. Dankend nimmt sie die Kleidung an und schließt die Tür, um die neuen Sachen zu inspizieren. Loreen hat die Wahl zwischen einem leicht hellviolett gefärbten ›Tunika-Leinen–was-auch-immer-Outfit‹ oder einer Ledermontur, ähnlich wie sie Slash, Sky und Pure gestern getragen haben. Die enge braune Lederhose mit den passenden Sandalen sitzt wie angegossen, ebenso das dazugehörige ärmellose Top, so wie Slash es versprochen hat. Dabei kommt Loreen der Gedanke, dass Slash sie doch genauer gemustert haben muss, als ihr bewusst gewesen ist. Sonst würde die Kleidung nicht so perfekt auf ihren Leib passen. Sie schiebt die Grübelei lieber beiseite, darüber muss sie später nachdenken.

Vollkommen umgezogen öffnet sie zum zweiten Mal die Tür und blickt in das positiv gestimmte Gesicht von Slash. Seine Miene ist nicht so streng und starr wie zuvor, doch Loreen bleibt auf der Hut und fragt mit kühlem Tonfall: »Gehen wir?«
Sein Ausdruck verwandelt sich wieder in eine verschlossene Maske. »Klar. Folge mir.«

Während sie sich dem Dorfzentrum nähern, erklärt ihr Slash kurz und bündig die wichtigsten Wege und wohin sie führen. Sie kann nicht allem folgen, was er sagt, da sie immer wieder abgelenkt wird und mit ihrem Blick an etwas hängen bleibt. Wie an den vielen Leuten, die durch das Lager eilen und alle so jung und kraftvoll wirken. Dabei fällt ihr auf, dass sie fast keine alten Menschen sieht. Hauptsächlich Kinder, Teenager oder junge Erwachsene, nur vereinzelt Ältere. Die Frage, die sich in ihrem Kopf bildet, schluckt Loreen hinunter, bevor sie Slash diese stellen kann. Er würde ihr sowieso keine Antwort geben und sie beschließt, damit auf Sky zu warten. Während ihres Weges schweift ihr Blick ständig auf die leuchtenden Blüten der verschiedenen Blumen oder Büsche ab, die mit dem vergehenden Sonnenlicht an Leuchtkraft gewinnen, ähnlich wie Neonfarben im Schwarzlicht.

Essenz der Götter I - XXL Leseprobe Where stories live. Discover now