1. 3 - Loreen

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Loreen

Wie immer schlich sie sich in der letzten halben Stunde vor dem Nachmittagsunterricht noch einmal hinaus in den Garten und atmete in tiefen Zügen die frische Luft ein. Heute war es ihr im Speiseraum noch voller vorgekommen als sonst. Was nicht nur daran lag, dass ein neuer Teenager namens Sky aufgetaucht war, sondern auch daran, dass zwei neue Lehrer nach dem Essen vorgestellt worden waren. Das Irritierende dabei war die Tatsache, dass der neue männliche Lehrer sie des Öfteren hemmungslos angestarrt hatte. Außerdem war Loreen sofort aufgefallen, dass er sich in seiner Haut nicht wohlfühlte, als er den Raum betreten hatte. So wie sie selbst. Sein verkrampfter Gang und das Zupfen an den Klamotten ließen ihn fast unsicher wirken. Was sie aber nicht nachvollziehen konnte, denn er sah gut aus, richtig gut. Das sollte sie zwar nicht über einen Lehrer denken, aber er war noch jung, ungefähr dreiundzwanzig. So jung, dass sie sich schwer tat, ihn in die gleiche Schublade wie die anderen Lehrer zu stecken – alt, rundlich und meist unmotiviert oder nervig.

Nur seine Klamotten - Jeans und ein altmodischer Pullover passten nicht ganz ins Bild seiner sonst so attraktiven Erscheinung. Er war groß und muskulös, seine Haare bestanden aus zusammengebundenen schwarzen Dreadlocks und seine Haut war cappuccinofarben – Kaffee mit einem Schuss Milch. Genauso, wie sie ihn gerne trank.

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Zwei Tage und einige Stunden später brach die letzte Unterrichtstunde vor dem Wochenende an und zugleich auch Loreens Lieblingsstunde: Musik. Auch wenn sie sich zurückhielt und dort, wie überall, im Hintergrund blieb, war ihr während der Musikstunde immer ein wenig leichter ums Herz. Musik konnte viele ihrer Stimmungen perfekt einfangen und manchmal ihre Gefühle komplett verändern, verbessern und erträglicher machen.

Das war schon immer so gewesen und daher hatte sie als Kind bald darauf bestanden, das Spielen eines Instruments zu erlernen. Ihre Mutter hatte sie zuerst zur Klarinette und später zum Saxophon überredet. Immer wenn sie auf Gitarre oder Klavier zu sprechen kamen, bei denen Loreen zusätzlich auch hätte mitsingen können, hatte ihre Mutter eine Ausrede gefunden.

Erst vor einigen Tagen war Loreen unbewusst in das Musikzimmer gestolpert. Ihre Füße hatten sie wie von selbst dorthin geführt. Im Raum hatte das große Klavier gestanden und bevor sie sich's versah, hatte Loreen bereits die ersten Tasten gedrückt und Musik war durch ihre Finger geflossen. Ohne dass sie es je gelernt hatte, wurde sie von den Klängen getragen. Plötzlich hatte sie nicht mehr aufhören können und mit geschlossenen Augen zu singen begonnen. Damit war es um sie geschehen: Emotionen trugen sie durch den Raum, die so vielfältig waren wie die Farben des Regenbogens. Etwas hatte sich in ihr gerührt, eine unbeschreibliche Sehnsucht, die in ihrem Innersten schlummerte. Das Sonderbarste war, dass sie beim Öffnen der Augen ein goldenes Licht gesehen hatte, das in fließenden Wellen um sie herum geströmt war. Doch als sie ihren Gesang beendet hatte, war das Leuchten sofort verschwunden. Was auch immer das gewesen war, es hatte ihr ungeheuer Angst gemacht und gleichzeitig ihre Neugierde geweckt. Bei der Erinnerung stellten sich erneut die Härchen an ihren Unterarmen auf und sie schlang die Arme um ihren Oberkörper.

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Essenz der Götter I - XXL Leseprobe Où les histoires vivent. Découvrez maintenant