6- "Sie ist ein Kind, Calean! Ein Kind!"

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„[...] diese Operation fand unter Zuhilfenahme eines Seda-Steins statt, um den Patienten über den Prozess schlafend zu halten. Der Stein entstand in einer Zusammenarbeit von mehreren Alchimisten und heilenden Magiern und wurde nach dem ersten Erfolg viele Male wieder zum Einsatz gebracht."

(Aufschriebe des Claudius Pinassus, 8. Hof-Medikus im 56. Jahr vor Kaelchon)

✥✥✥

          Die Nacht verging und Amilas Bett blieb leer.
Stattdessen quälte ich mich die ganze Schlafenszeit über und wunderte mich erst am frühen Morgen, warum auch Sidras Bett verlassen geblieben war.

Ich traf sie beim Frühstück wieder, wo sie mit einer dunkelhaarigen Schülerin die Köpfe zusammensteckte und so tat, als wäre sie nie fort gewesen. Ich riss mich erst von ihrem Anblick los, als mir auffiel, dass neben mir Garcy auf ihren leeren Teller starrte.
„Geht's dir nicht gut?"

Garcy sah mich nicht an. Mit einem ärgerlichen Schnaufen schlug sie meine tastende Hand von ihrer Stirn und drehte sich dann auf der Bank ein Stück von mir fort.
„Ich habe keinen Hunger."

Sicher. Und ich war eine Waldelfe. Wenn wir beide eines gemeinsam hatten, dann unseren stetigen Appetit, der uns vor allem in den mageren Jahren das eine oder andere Mal fast den Hals gekostet hatte. Siehe auch: Wie Garcy von den Reitern des Königs gefasst wurde.
Ich rückte ein Stück hinter ihr her.
„Was ist passiert?"

„Nichts."

„Garcy?"

Mit einem Ruck fuhr sie zu mir herum. Ihre silbrigen Augen glühten vor unausgesprochenen Worten und stillem Zorn.
„Wo warst du gestern?"

Ich blinzelte einmal.
„Mit Maze am Stall. Wir wollten trainieren und dann habe ich Calean geholfen."
Mehr oder Weniger.

Eher weniger.

„Du hättest mich mitnehmen können!", brauste meine Schwester auf, ihre winzigen Hände zu Fäusten geballt.

Was war denn los? Garcy hatte nie ein Problem damit, wenn ich den ganzen Tag unterwegs war. Beziehungsweise, sonst verstand sie es.

Sie las meine Verwirrung an den gerunzelten Augenbrauen ab und rammte mich mit der Schulter, was eine unaufhaltsame Welle an Bildern durch meinen Kopf sandte.
Garcy, wie sie den Hof erkundete und von Sir Kenrik gefunden wurde. Wie er ihr eröffnete, was für große Pläne man für sie habe und dass sie heute mit dem Training beginnen würde. Und meine Schwester, zu verschüchtert, um sich zu widersetzen.

Ich kehrte schaudernd in den bescheidenen Speisesaal mit seinen langen Bänken und groben Tischen zurück. Das Holz war ergraut und teilweise abgewetzt. An den Kronleuchtern hingen Spinnenweben und eine Halterung war zur Hälfte aus der Decke gebrochen.

„Ich will nicht mit ihnen üben!", wisperte Garcy energisch und ihren Wimpern schimmerten die ersten Tränen, „Ihre Köpfe sind durcheinander und widerlich!"

„Würde es dir helfen, wenn ich dabeibleibe?"

Sie funkelte mich aus diesen wirbelnden Augen an, nickte dann jedoch ergeben.
„Es wäre einfacher, wenn wir gehen würden."

Aber da lag sie falsch. Dort draußen lauerten weitaus widerlichere Seelen als hier drinnen. Sie war ihnen nur noch nicht begegnet.

„Vielleicht", murmelte ich, meine Finger nach ihrer Wange streckend, „Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie du es dir vorstellst."

Garcy sagte nichts, doch dieses Mal wich sie mir nicht aus.

„Und vielleicht stehlen wir uns heute Nacht in den Wald und jagen Irrlichter."

Jagd der Nebelflüsterer- Die VogelfängerWhere stories live. Discover now