Prolog: Das Märchen vom Hölzernen Vogel

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Es begab sich einmal, dass der Wandprinz in ein abgelegenes Dorf im Wald kam und von einem magischen Wesen hörte, dessen Lied jedes Unglück richten konnte. Sofort merkte der Prinz auf, denn er dachte an all die Menschen auf seinem Weg, denen er wohl helfen konnte mit einer so wundersamen Kreatur. So beschloss er, ihren Spuren zu folgen und war bald weit in den Bäumen verschwunden, wo wilde Tiere und wildere Männer hausten, die in ihm ein leichtes Opfer sahen. In seiner ersten Nacht kam eine weise Eule zu ihm und sagte: „Mein Prinz, kehrt um. Nichts als Unheil wartet auf diesem Pfad." Aber der Prinz lachte und erwiderte: „Je größer das Unheil, desto größer der Preis." Die weise Eule war beeindruckt von seinem Mut und gab ihm deswegen eine ihrer Federn, mit der würde er selbst in der bedrückendsten Finsternis noch all seine Sinne beisammen halten können.

Der Prinz zog weiter und kam an eine Brücke, da standen zwei finstere Gesellen Wache und wollten ihn nicht durchlassen. „Wenn du nur einen Schritt vorangehst, dann werden wir dich einfangen und auffressen", sagten sie ihm und zeigten ihm einen Beutel, der bebte und zitterte, weil dort drinnen hatten sie schon viele arme Wanderer gefangen. Der Wanderprinz aber lachte wieder nur und zog sein Schwert, und weil er schon viele Abenteuer ausgefochten hatte bestand er auch gegen die Wegelagerer und warf sie hinab in den reißenden Fluss. Er öffnete den Beutel und heraus sprangen viele arme Männer und Frauen und Kinder und ganz am Ende eine alte Heilerin, die gab ihm eine Tinktur zum Dank, die alle Wunden heilen würde.

Je weiter er zog, desto finsterer und undurchdringlicher wurde der Wald und er musste sich gegen manches wilde Tier behaupten und ihr Heulen jagte selbst ihm einen Schauer über den Rücken, aber mit der Feder der Eule in der Tasche behielt er immer einen klaren Kopf. Als er sich aber zum Schlafen niederlegte, da ertönte ein gar grauenhafter Schrei. Augenblicklich sprang er auf und eilte seinem Ursprung hinterher, wo er eine Lichtung fand, da war eine wunderschöne Maid an einen Felsen gefesselt und von einem Drachen bewacht, der war so grausam und furchterregend, mit drei Köpfen und messerscharfen Klauen und geifernden Reißzähnen und böse funkelnden Augen, dass jeder standhafte Mann wohl die Flucht ergriffen hatte. Doch der Wanderprinz wollte das arme Mädchen nicht in der Not zurücklassen und so packte er die Feder und stürzte vorwärts mit seinem Schwert, und auch wenn der Kampf lang und blutig war, so siegte er am Ende doch und durchschlug die Fesseln der Maid.

Mit Tränen des Glücks dankte sie ihm und hielt ihn gleichzeitig an, schnell den Wald wieder zu verlassen, weil er von einem bösen Zauberer beherrscht wurde und der Wanderprinz gerade sein liebstes Monster getötet hatte. Sie selbst war eine geraubte Prinzessin aus einem fernen Land und wollte ihn heiraten, wenn sie beide wohlbehalten aus dem Wald herausgekommen waren. Doch der Wanderprinz wollte weiterziehen und seine Mission vollenden, egal wie sehr sie flehte, also gab sie ihm einen kostbaren Ring, der würde ihn unsichtbar machen und vor dem Zauberer verstecken.

„Wenn Ihr in sein Schloss kommt und in den tiefsten und dunkelsten Keller vordringt, dann werdet Ihr einen Vogel finden, dessen Gesang ist so lieblich, dass kein Unhold ihn ertragen kann", erzählte sie ihm. „Nur so könnt Ihr den bösen Zauberer besiegen."

Dann brach sie wieder in Tränen aus, denn um ins Schloss zu kommen musste man eine tödliche Dornenhecke durchqueren, in der war bis jetzt jeder Held elendig verblutet und sie hatte den Wanderprinzen durch seine Taten so liebgewonnen, dass sie ihn nicht verlieren wollte. Doch der Wanderprinz blieb guter Dinge und zog weiter, sein Ziel zum Greifen nahe.

Und wahrhaftig, wie er an die Dornenhecke kam, gab es keinen einzigen Weg hindurch und er musste sich durch die Stacheln kämpfen, die ihm die Kleidung zerrissen und schreckliche Wunden schlugen, aber bevor er verbluten konnte nahm er die Tinktur der Heilerin und war wieder völlig unversehrt, sodass er es bis zum Eingang des Schlosses schaffte. Dort steckte er sich den Ring an und schlich durch die langen, düsteren Gänge am Zauberer vorbei in den Keller, und fand dort einen hölzernen Vogel, so wie die gerettete Prinzessin es ihm beschrieben hatte. Der Vogel aber war in einen goldenen Käfig gesperrt, der sich nur für einen Mann mit reinem Herzen öffnen konnte und der Wanderprinz musste den Ring abnehmen, damit er ihn erkannte. Sogleich fand aber auch der Zauberer ihn und eilte hinab, um seinen wertvollen Preis zu beschützen und wob gar furchtbare Zaubersprüche, um den Wanderprinzen mit Albträumen und Schreckensgespenstern von Sinnen zu bringen.

Da der Wanderprinz aber noch immer die Feder der weisen Eule bei sich trug, durchschaute er den Trug sofort und öffnete rasch den Käfig, damit der hölzerne Vogel ihm auf die Hand springen und singen konnte. Sein magischer Gesang war so lieblich, dass es den Wanderprinzen zu Tränen rührte und selbst das böse Herz des Zauberers erweichte, der nun all seine Taten bereute und beschloss, ein guter Mensch zu werden. Alle Monster wurden aus dem Wald vertrieben, alle Gefangenen befreit und im ganzen Wald begannen die Vögel vor Freude zu singen, dass es weit und fern klang.

Der Wanderprinz aber zog mit dem Vogel und der Prinzessin von dannen und hilft auch heute noch, das Böse zum Guten zu wenden, wo immer er es findet.

Für einen Moment war der kleine Junge im Bett still.

Dann schlug er plötzlich die säuberlich um ihn festgesteckte Bettdecke zur Seite und setzte sich auf, das Gesicht missbilligend verzogen.

„Ich mag dieses Märchen nicht", verkündete er. „Wo ist die Jägerin? Warum sind da plötzlich Dornen, aber die Prinzessin hat der Wanderprinz schon vorher getroffen? Und er wusste nicht, dass da ein Holzvogel war, bis sie es ihm gesagt hat?"

Seine Kinderfrau blinzelte etwas hilflos.

„Ich bitte um Verzeihung, mein Prinz", sagte sie hastig. „Eure Frau Mutter bat mich nur darum, Euch die neuste Geschichte zu erzählen, die ich gehört habe."

„Nun, es ist eine dumme Geschichte", beharrte der kleine Prinz missmutig und verschränkte die Arme. „Ich will noch eine hören. Eine bessere. Eine, in der der Wanderprinz eine ganze Armee kaputtschlägt. Nein, zwei oder drei ganze Armeen!"

„Ach herrje", murmelte die Kinderfrau, mehr zu sich selbst. Sie setzte sich zurück auf den Stuhl neben dem Bett des Prinzen und kratzte sich nachdenklich am Kopf.

„Albin", ertönte eine strenge Stimme von der geöffneten Tür. „Du weißt genau, dass es nur eine Geschichte gibt. Danach wird geschlafen."

„Aber sie war überhaupt nicht neu, nur falsch!", quengelte der Prinz, als seine Mutter eintrat und die Kinderfrau erleichtert ausatmete.

„Verzeiht, Eure Majestät", sagte sie schnell. „Ich dachte wirklich, ich erzähle ihm eine neue Geschichte. Ich wusste nicht ..."

Prinzessin Mathilda lächelte sanft.

„Mach dir keine Gedanken, Ewine", unterbrach sie die Kinderfrau. „Ich fürchte, es gibt schon seit ein paar Jahren keine wirklich neuen Geschichten mehr vom Wanderprinzen. Und Prinz Albin merkt leider sofort, wenn etwas nur eine neue Version von bekannten Elementen ist, weil er die Märchen alle in- und auswendig kennt."

Ewine sprang vom Stuhl auf und verbeugte sich dankbar.

„Ich hole das Nachtgeschirr des Prinzen", sagte sie und verließ hastig den Raum, sodass die Prinzessin sich ungestört an die Bettkante ihres Sohnes setzen konnte, der noch immer aufrecht gegen das Bettende gelehnt saß.

„Mutter", sagte er und schob die Unterlippe vor. „Sie hat es falsch erzählt. Es war wie das Märchen vom verlorenen Herzen, aber es gab keine Jägerin und die beiden Krieger waren böse."

„Hm", machte Mathilda verständnisvoll und schob ihn sanft zurück in die Kissen. „Manche Leute mögen eben auch andere Versionen der Geschichte. Du darfst der armen Ewine nicht böse sein, weil sie sich nicht so auskennt wie du."

„Du magst auch die Geschichte mit der Jägerin, oder?", fragte Prinz Albin hoffnungsvoll, auch wenn er sich dabei sichtlich ein Gähnen verkneifen musste. Seine Mutter strich ihm nur über die Haare, bis seine Augen zu flattern begannen, die Müdigkeit Überhand nehmend. Sie summte leise dabei, bis sie schließlich ganz geschlossen waren und er sich ohne weiteren Protest wieder zudecken ließ.

„Ja", antwortete sie erst dann, kaum hörbar. Der junge Prinz regte sich nicht mehr, sein Atem ruhig und gleichmäßig. Dass sie selbst sich mehr nach einer neuen Geschichte über den Wanderprinz sehnte als ihr Sohn, sprach sie nicht laut aus.


***

... Und da ich das erste Kapitel ja schon einmal im Begleitbuch hochgeladen habe, kriegt ihr das heute gleich mit!

Dornen - Das Königreich erstarrtWhere stories live. Discover now