1 - Das Tor der Toten

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Wenn sich Elwa den Eingang zum Reich der Toten vorgestellt hatte, war da immer Finsternis gewesen, die dunkle Umarmung einer Höhle, das Gewicht der ganzen Welt über ihrem Kopf. Aber der Pfad, den der Hölzerne Kapitän ihnen gezeigt hatte, führte nach oben, sanft und beständig, schmal und unscheinbar, der Steinbogen an seinem Anfang nur verborgen, nicht geheim.

„Erlaubt euch keine Pause, egal wie hungrig oder müde ihr zu werden droht", hatte Galateos sie angewiesen. „Die Zeit macht merkwürdige Dinge, so nah am Abgrund. Aber der Weg ist nicht dafür gedacht, zu töten, was noch lebt."

Wie er gesagt hatte, gab es keine Hindernisse, nichts, was sich ihnen in den Weg zu stellen drohte. Nur das unbestimmte Gefühl, dass sie nicht allein waren, von murmelnden Stimmen in den dichten Wolken, die sich um sie gesammelt hatte, ein paar Längen über dem Fuß des Hügels schon. Die gespenstische Stille, wann immer diese Stimmen kurz verklangen, das Fehlen von jedem Echo, selbst den Geräuschen ihrer Schritte auf dem Pfad. Kälte, mit jedem Schritt beißender. Sie sprachen nicht – Sprechen würde sie nicht vom Weg abbringen, aber es würde ihn länger machen. Um das Reich des Todes zu finden, musste man den Toten selbst nahe sein.

Elwa zog den Mantel fester um ihre Schultern, den sie im letzten Dorf gekauft hatten. Samir hatte darauf bestanden, nachdem es so viel kühler geworden war, der Winter selbst in den südlichsten Ausläufern des Mitternachtslandes schon lange angebrochen. Fast hätte Elwa sich verraten und ihm gesagt, dass sich ein Mantel nicht mehr lohnen würde, aber Asifa hatte sie scharf über den Ladentisch hinweg angesehen und sie war stumm geblieben. Sie fragte sich, ob es falsch war, jetzt über seine zusätzliche Wärme erleichtert zu sein. Die Kälte hätte sie nicht getötet. Elwa kannte ihr Ende, und Asifa ebenfalls, und wahrscheinlich auch die gedämpften Stimmen in der diesigen Luft. Nur Samir wusste es noch nicht und sie biss die Zähne hart zusammen bei dem Gedanken daran, wie kurz die Wahrheit bevorstand.

Aber sie bereute ihre Entscheidung nicht. In den Dornen hatte sie das Leben gesehen, das sie hätte führen können – und jede der unzähligen Abzweigungen, in denen sie die Kontrolle darüber verlor, sich wieder einfangen ließ, den Ranken gab, was sie wollten. Das hier ... das hier war sicher. Elwa hatte lange genug gelebt und sie hatte ein ganzes Jahr gehabt, um die Welt zu sehen und zu helfen, mehr sogar. Es war nichts verschwendet damit, wenn sie jetzt ging. Nichts, was sie verpassen würde. Allein, dass sie sich nicht mehr von ihren Eltern und ihrem Bruder verabschieden konnte, bedauerte sie, aber Asifa hatte längst den Brief an sie in ihrem Gepäck versteckt und würde ihn abschicken, sobald sie zurückkehrte. Zu dritt, wie sie aufgebrochen waren, aber ohne Elwa.

Für einen kurzen Moment hielt sie inne und atmete tief ein, spürte bereits den Unterschied zwischen reiner Luft und dieser, durchzogen von etwas anderem, dem Geschmack einer gänzlich unbekannten Welt.

Komm, flüsterten die Stimmen, klar und deutlich, fast direkt neben ihr. Aber nicht in ihrem Kopf und das war, was zählte. Nie wieder.

Der zweite Steinbogen erhob sich so plötzlich aus dem Nebel, als hätte er sich selbst dorthin bewegt während sie nicht hinsahen. Elwa entfuhr ein scharfes Keuchen, als aus dem unbestimmten Driften plötzlich ein Sog wurde, ein Wille. Sie wollte den Bogen durchschreiten und sehen, was dahinter wartete, aber sie wusste, dass sie damit warten musste, den richtigen Moment abpassen. Ihr Körper gehorchte ihr dennoch nur bedingt, die nächsten Schritte geschahen ohne ihr Zutun. Erst, als Samir hastig den Arm ausstreckte, um sie anzuhalten, sah sie den Riss im Boden zwischen ihrem Teil des Pfades und dem Bogen, breiter und tiefer jetzt, da sie hinunterblickte. Der Nebel waberte ungestört weiter.

„Das ist es", sagte Asifa halblaut. Ihre Finger umklammerten den Griff ihres Schwertes so hart, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Samir nickte, kurz und abgehackt, bevor er weiter nach vorne trat, bis an den Rand des Abgrundes. Unter seinen Füßen bröckelten Steine ab und fielen ins Nichts, ohne ein einziges Geräusch zu machen.

Dornen - Das Königreich erstarrtWhere stories live. Discover now