4. Jeder sollte einen Liam haben <3

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Schlaftrunken schlug ich auf meinen klingelnden Wecker und brachte ihn so zum Schweigen. Es kam mir vor, als wäre ich gerade erst eingeschlafen. Obwohl Liam gestern so früh gegangen war, hatte er mich in gewisser Weise doch um meinen Schlaf gebracht.
Lächelnd darüber, dass mein Morgen direkt mit ihm anfing, krabbelte ich aus dem Bett und schlüpfte ins Badezimmer, um mich zu duschen. Am vergangenen Abend hatte ich mich einfach nicht mehr dazu aufraffen können.
Beruhigend floss das heiße Wasser über meinen zitternden Körper. Warum musste es einem nach dem Aufstehen immer so furchtbar kalt sein? Einer der Gründe, warum es besser war, abends zu duschen. Zähneklappernd wartete ich darauf, dass mir wärmer wurde.
TOK, TOK, TOK machte es an der Tür.
»Was?«, fragte ich genervt. An der Art des Anklopfens hatte ich gehört, dass es nur meine Mutter sein konnte.
»Ordentlich waschen!«, rief sie durch die geschlossene Tür und kicherte schon wieder schelmisch. Ich reagierte gar nicht darauf. Sollte sie doch zu Dad rübergehen und ihn am frühen Morgen piesacken.
Nachdem ich fertig war, stieg ich aus der Dusche und stellte fest, dass ich noch massig Zeit hatte. Ich holte den Föhn hervor und genoss die warme Luft, die mein Haar langsam trocknete. Eigentlich war es ja ganz bequem, morgens alles in Ruhe zu erledigen. Wenn nur mein innerer Schweinehund nicht wäre, der jeden Morgen versuchte, mich mit all seinen Kräften – und er war verdammt stark – am Aufstehen zu hindern.
Danach ging ich in mein Zimmer und durchwühlte meinen Schrank nach ein paar Klamotten. Die Auswahl war nicht sehr groß, schicke Kleidung besaß ich keine. Ich war eher der sportive Typ, auch wenn sich das voll und ganz auf meine Kleider beschränkte. Schließlich zog ich eine verwaschene Jeans und eine braune Sweatshirt-Jacke hervor, die mit hellem Teddyfell gefüttert war. Ein Blick aus dem Fenster verriet mir, dass ich sie heute brauchen würde. Draußen herrschte mal wieder typisches Herbstwetter: Es war neblig, grau und es nieselte.
»Emma? Willst du heute nicht in die Schule?«, rief mein Dad von unten. Erschrocken blickte ich auf die Uhr. Wo war denn plötzlich die ganze Zeit hin? Jetzt reichte es noch nicht einmal mehr für ein schnelles Frühstück.
Ärgerlich darüber, dass ich so herumgetrödelt hatte und mich jetzt doch noch abhetzen musste, rannte ich hinunter in die Küche und steckte mir eine Handvoll Müsli-Riegel in die Tasche.
»Morgen Dad, bin weg!«, schnaufte ich ihm im Vorbeilaufen zu und verschwand durch die Haustür. Mit großen Schritten eilte ich meinen Schulweg entlang - da stockte ich plötzlich, und meine hastigen Schritte verwandelten sich schlagartig in angewurzeltes Stehenbleiben. Liam lehnte lässig an der Laterne, welche die Stelle markierte, an der sich unsere Schulwege kreuzten. Seine Wuschelhaare waren feucht, wie auch die Schulterpartie seines langen grauen Mantels. Er hielt sich die Hände vor den Mund und blies anscheinend hinein, um sie zu wärmen. Offenbar stand er schon länger da.
Verunsichert, warum er wohl dort wartete, ging ich ihm langsam entgegen. Wollte er sich bei mir über den gestrigen Abend beschweren? Wollte er mir sagen, wie schrecklich meine Familie war? Dass er nie wieder auch nur einen Fuß über unsere Schwelle setzen würde?
»Nun mach schon!«, hetzte er mich von weitem. Wie von selbst beschleunigten sich meine Schritte wieder. Trotz des unguten Gefühls, machte mein Herz einen kleinen Hopser, weil er wohl tatsächlich auf mich gewartet hatte. Wenigstens besaß er soviel Anstand, mir seine Meinung persönlich unter vier Augen zu sagen, anstatt mich vor der ganzen Klasse herunterzuputzen – was wiederum sein gutes Recht gewesen wäre. Wer weiß, wie ich nach so einem erschreckenden Abend reagieren würde?
»Ich dachte schon, du lässt mich hier festfrieren«, begrüßte er mich mit einem leichten Lächeln.
»Ich ... wusste nicht ... dass du ... auf mich wartest ...«, stammelte ich und hielt den Blick dabei gesenkt - bereit, den Anschiss meines Lebens zu kassieren. Doch zu meiner Überraschung hatte er das gar nicht vor.
»Natürlich warte ich«, entgegnete er entrüstet. »Ich wollte heute Morgen gerne mit dir zusammen gehen.«
Was hatte er da gesagt? Ich sah in seine dunkelbraunen Zartbitteraugen, die mich innig anschauten. Eigentlich hätte ich schon längst antworten und mich über seine Aussage freuen sollen, stattdessen war ich kurz irritiert. Irgendetwas war anders an diesen Augen als bei den übrigen Menschen. Ich kam nur nicht darauf, was es war.
Mein Blick glitt über sein ganzes Gesicht und ich freute mich, ihn endlich einmal ganz offiziell mustern zu können und es nicht immer nur bei heimlichen Blicken zu belassen. Seine blassrosa Lippen waren wohlgeformt und wirkten weich, seine markanten Gesichtszüge ließen ihn sehr maskulin aussehen und selbst seine dunklen Augenbrauen waren ästhetisch und nicht so buschig und ungepflegt, wie bei den meisten meiner männlichen Klassenkameraden.
Mit einem »Wenn du das überhaupt willst ...« holte er mich wieder in die Realität zurück.
»Ich würde unheimlich gerne mit dir zusammen zur Schule gehen«, antwortete ich und spürte, dass ich leicht errötete.
Seine Fingerspitzen streiften leicht meine Wange, als er mir eine Haarsträhne hinter das Ohr schob und seine Berührung verursachte mir Gänsehaut. Ich hatte in der Hektik heute Morgen völlig vergessen, meine Schnittlauchhaare irgendwie zu »frisieren«, wobei das schon ein sehr gehobener Ausdruck für das war, was ich normalerweise mit ihnen veranstaltete.
»Das ist schön ...«, sagte er sanft.
»Bist du denn sicher, dass du das überhaupt willst? Ich meine, nach dem Abend gestern ...«, erinnerte ich ihn und schämte mich einmal mehr in Grund und Boden dafür.
»Wenn ich nicht wollte, hätte ich heute Morgen nicht schon über eine halbe Stunde in der Kälte verbracht.«
»Wie lange?!« Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme entsetzt klang, doch Liam lächelte mich liebevoll, geradezu beruhigend an.
»Halb so wild. Ich bin doch schon groß«, zwinkerte er mir zu, doch so richtig überzeugen konnte er mich damit nicht, Skeptisch musterte ich ihn.
»Ich wusste ja nicht, wann du morgens losgehst. Bei den Geschwindigkeiten, in denen du dich üblicherweise fortbewegst, hätte es gut sein können, dass du um diese Uhrzeit längst unterwegs bist, um überhaupt rechtzeitig anzukommen.« Sein liebevolles Lächeln wurde plötzlich spöttisch und der Schalk blitzte aus seinen Augen, als er mir diese Erklärung lieferte.
Zuerst wollte ich dagegen protestieren, doch was sollte ich schon dazu sagen? Recht hatte er. Ich war eine Schnecke und Sport war für mich mindestens genauso schlimm wie Mathe, nur mit der zusätzlichen, gemeinen Eigenschaft, dass man sich dabei auch noch verletzen konnte. Das Erbärmliche war nur, dass er mein Defizit schon nach drei Tagen erkannt hatte. Mein Problem musste also akut, nein, schon eher mitleiderregend sein. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Wir sollten jetzt besser gehen, sonst kommen wir wirklich zu spät.«
Ich nickte gehorsam und wollte gerade einen Fuß vor den anderen setzen, da nahm er mir behutsam meine Tasche ab und schwang sie gekonnt über seine starke Schulter. Erstaunt über diese altmodische, wenn auch sehr charmante Geste, hielt ich inne, während er schon weiterlief. Für Liam schien das völlig normal zu sein.
»Du musst nicht ...«, begann ich, doch Liam winkte ab und setzte seinen Weg fort.
»Danke«, murmelte ich verschämt und beeilte mich, ihn einzuholen.
»Ach, Emma?«
»Mmh?«
»Ich mag es, wenn du deine Haare offen trägst. Es sieht sehr ...« – er schien nach einem geeigneten Wort zu suchen – »... attraktiv aus.«
Die Freude, die aufgrund dieses Kompliments sintflutartig auf mich niederprasselte, brauche ich wohl niemandem ausführlicher zu schildern. Mein Gute-Laune-Pegel schoss bis ins Unermessliche und ich beschloss, meine Haare nie wieder ohne triftigen Grund zusammenzubinden.

Der Rest des Tages verlief ohne weitere besondere Vorkommnisse. Wir hatten zwei Stunden Bio, zwei Stunden Chemie und zwei Stunden Geschichte - der einzige mathefreie Tag in der Woche. Dadurch war er schon allein zu meinem Lieblingstag geworden.
Liam hatte sich wieder neben mich gesetzt, obwohl ihm etliche meiner Mitschüler einen Platz angeboten hatten. Das betrübte mich ein wenig. Als ich damals in die Klasse gekommen war, hatte man mich nicht so herzlich empfangen. Ganz im Gegenteil. Selbst nach dem ersten halben Jahr gab es immer noch Schüler, die nicht wussten, wer ich war, bis ich mir mit meiner Ahnungslosigkeit in Mathe einen Namen gemacht hatte.
Ständig schaute ich zu Liam, der aufmerksam unserem Lehrer folgte. Ab und zu blickte er jedoch verstohlen in meine Richtung und lächelte mich verführerisch an. Ob es beabsichtigt war oder nicht: Ich empfand es zumindest als verführerisch - einfach, weil Liam eine einzige Verführung war. Ich konnte aber auch nicht ganz ausschließen, dass es immer noch mit dem Hochgefühl zusammenhing, welches ich aufgrund seines Kompliments von heute Morgen in mir verspürte.
Zu meiner Beruhigung fiel mir wenigstens auf, dass ich nicht das einzige Mädchen war, welches Liam ununterbrochen anstarrte. Unzählige perfekt geschminkte Augenpaare sahen immer wieder zu ihm hin. Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, es hätte mich nicht gestört, doch konnte ich mich damit trösten, dass Liam neben mir saß, obwohl er freie Platzwahl hatte.
Der Schultag neigte sich dem Ende zu und Liam hatte kein einziges Wort mehr über den gestrigen Abend verloren. Vielleicht kannte er solche Peinlichkeiten auch selbst von zu Hause? Seine Mom würde zwar bei weitem nicht so vulgär und nervtötend sein wie meine – welche Mutter, die nicht in einer Anstalt weggeschlossen wurde, war das schon – doch womöglich war sie überfürsorglich oder hatte sonst irgendeine kleine Macke, die ihm ebenfalls unangenehm schien? Dieser Gedanke heiterte mich auf.
Doch egal, ob es nun stimmte, ich war einfach froh darüber, dass er nichts mehr dazu gesagt hatte und dabei würde ich es auch belassen.

Moonlit Nights 1 - GefundenOn viuen les histories. Descobreix ara