5.2 Wie Gyle-Kyle zu seinem Namen kam...

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Wortlos gingen wir nebeneinander den Schulweg entlang. Wir schafften es gerade noch rechtzeitig in Mr Grahams Unterricht und erfreut sah ich, wie unser Lehrer gerade dabei war, den Fernseher startklar zu machen. Aus dem Getuschel meiner Klassenkameraden entnahm ich, dass wir einen Film über amerikanische Geschichte ansehen würden.
Liam und ich ließen uns an meinem Tisch nieder. Ja, an meinem Tisch. Die Vorstellung, dass Liam bis zum Schulende neben mir sitzen bleiben wollte, war zwar traumhaft, aber irgendwie auch unrealistisch.
Er warf unsere Taschen auf den Tisch, ließ sich erschöpft auf den Stuhl sinken und platzierte seinen Kopf schlafbereit auf einer der Taschen. Komischer Liam ...

Tyler, der zwei Plätze von uns entfernt saß, tippte Kyle auf die Schulter. »Ey, Alter!«, hörte ich ihn sagen, »schau dir mal Liam an!« Kyle blickte zu Liam herüber und als er ihn sah, kroch ein hämisches Grinsen über seine Speckbacken.
Kyle war mit Abstand der schrecklichste Schüler, den meine Klasse zu bieten hatte. Es verging fast kein Tag, an dem ich nicht einen dämlichen Spruch von ihm an den Kopf geworfen bekam. Immerhin konnte ich mich damit trösten, dass ich nicht die Einzige war, der es so ging.
Kyle war Kapitän der Football-Mannschaft und genauso sah er auch aus. Einmal hatte er mich dabei erwischt, wie ich ihn bei einem Gespräch mit einem Mitschüler »Gyle« genannt hatte und nur Kyle war dämlich genug zu glauben, es wäre mein Kosename für ihn gewesen und ich hätte es von »geil« abgeleitet. Auf so eine absurde Idee konnte auch nur er kommen, selbstverliebt wie er war. Allerdings sollte ich froh darüber sein. Falls er jemals die wahre Ableitung seines Spitznamens in Erfahrung bringen sollte, würde er mich vermutlich zerquetschen wie einen Parasiten.
Gyle hatte ich ihn getauft, weil er sich einfach mit G-Worten am besten beschreiben ließ. Er war groß, grobschlächtig (übrigens mein Lieblingsadjektiv für Kyle) und gemein. Außerdem geistesgestört, gierig und gewalttätig, größenwahnsinnig und großkotzig nicht zu vergessen. Zugegeben, er sah nicht schlecht aus und sein Körper war besser gestählt als der von Arnold Schwarzenegger, sodass selbst Liam neben ihm schmal wirkte. Doch leider schien der ganze Muskelaufbau bei seinem Gehirn einen enormen Abbau bewirkt zu haben. Die Untersuchung von Gyle-Kyle wäre sicher ein interessantes Thema für eine Doktorarbeit.
»Scht ...«, zischte Kyle zu Liam herüber, der mittlerweile seine Augen geschlossen hatte und ihn ignorierte. Kyle und Tyler lachten dreckig. Ein Radiergummi kam aus ihrer Richtung geflogen und traf Liam am Kopf.
Wütend schlug er seine Augen auf. »Was ist?«, fuhr er sie mit einer rauen, kratzigen Stimme an, welche mir durch Mark und Bein ging. Doch Kyle ließ sich davon nicht beeindrucken. »Wilde Nacht gehabt gestern?«, fragte er und seine Augen wurden vor Erwartung immer größer.
Liam schien einen Moment zu überlegen, was er darauf antworten sollte, doch dann lächelte er schwach. »Kann man so sagen ...«
Mir fiel auf, dass Kyle ebenfalls sehr mitgenommen aussah. Waren sie zusammen weg gewesen?
Nein ... das konnte nicht sein. Sonst hätte er ja nicht gefragt, was Liam gemacht hatte. Außerdem sah Kyle öfter so aus. Vermutlich war er wieder auf irgendeiner Party gewesen und hatte sich betrunken. Schließlich gehörte er zu den »Coolen«, die bereits das Ausgehen für sich entdeckt hatten.
Doch was war mit Liam? Gehörte er etwa auch dazu?
Irgendwie schon. Er war zwar neu in der Klasse, doch er wurde behandelt, als wäre er schon immer da gewesen und jeder wollte mit ihm befreundet sein. Doch irgendwie konnte ich ihn mir nicht Bier saufend auf einer Party vorstellen. Und schon gar nicht zusammen mit Kyle. Ich wollte nicht, dass Liam sich mit meinem Erzfeind verbündete. Liam mit Gyle-Kyle. Bäh! Es schüttelte mich bei diesem Gedanken.
»Kann man so sagen?« Kyle grinste noch breiter. »Daumen hoch, Alter!«, zischte er Liam zu, doch dieser hatte seine Augen bereits wieder geschlossen.
Kann man so sagen??? Eine unbeschreibliche Welle der Eifersucht schwappte über mich hinweg.
Mr Graham sah zu Liam herüber, dessen Kopf immer noch auf dem Tisch lag. Verwirrt blickte er daraufhin zu mir, als wollte er mich fragen: »Liam ist doch nicht wirklich in meinem Unterricht eingeschlafen?« Doch ich zuckte nur ratlos mit den Schultern. Ich hatte zwar genau registriert, dass Liam eingepennt war, doch ich brodelte zu sehr, um ihm jetzt aus der Patsche zu helfen. Das hatte er davon, wenn er sich nachts herumtrieb. Wusste der Himmel, mit wem und was er gemacht hatte!
Frustriert riss ich ein Blatt aus meinem Block und ließ es für meinen Unmut büßen, indem ich es in winzig kleine Teile zerlegte. Konnte mir nicht egal sein, was Liam in seiner Freizeit machte? Warum störte es mich, nicht zu wissen, was er getan hatte und mit wem er unterwegs gewesen war?
Doch: Liam war so etwas wie ein Freund und erzählte man Freunden nicht, was man nachts trieb? Zumindest dann, wenn man etwas Tolles erlebt hatte? Irgendwie fühlte ich mich verraten. Vielleicht waren wir auch gar nicht richtig befreundet? Und ich hatte es nur gedacht?
Mr Graham ging zielstrebig auf unseren Tisch zu, doch ich starrte unverwandt auf mein Blatt. Er baute sich vor Liam auf und klopfte mit einer Hand auf den Tisch. Schläfrig hob dieser den Kopf.
»Ja, bitte?« Wieder hörte sich seine Stimme unnatürlich rau und kratzig an. Ganz anders, als die samtene Liam-Stimme, die ich sonst von ihm gewohnt war. Neugierig beobachtete ich Mr Graham und Liam aus den Augenwinkeln.
»Schlafen Sie gut, Mr Hunter?«, fragte der Lehrer. Seine Stimme zitterte vor Entrüstung.
»Na ja, ich hab schon besser geschlafen ...« Liam lächelte Mr Graham verschmitzt an und richtete sich auf. Kyle und Tyler grölten.
»Ich werde jetzt aufpassen«, versprach Liam und versuchte, möglichst konzentriert auf den Bildschirm zu sehen.
»Ich werde mir das vermerken.« Mr Graham drehte sich um und schaute ebenfalls wieder zum Film.
Armer Liam. Ich war echt gemein. Hätte ich ihm rechtzeitig einen kleinen Stoß versetzt, wäre er wenigstens wach gewesen, als Mr Graham ihn ansprach. Eine gute Freundin hätte das zumindest getan, aber wer wusste schon, was ich für Liam war, nach der ganzen Sache heute.

Moonlit Nights 1 - GefundenWhere stories live. Discover now