5.1 Eiszapfen-Rentier-Leuchtturm-Emma xD

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Heute war Donnerstagmorgen - höchste Zeit, sich für die Schule fertig zu machen.
Meine Haare bändigte ich seit Neuestem mit Hilfe von zwei kleinen Haarspangen. So konnte ich sie problemlos offen lassen, ohne dass sie mir ständig ins Gesicht fielen. Das war ein guter Kompromiss zwischen praktischem Zusammenbinden und Offentragen für Liam.
Schnell warf ich noch einen prüfenden Blick in den Spiegel und stellte erfreut fest, dass es gar nicht mal so schlecht aussah. Zufrieden hüpfte ich, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter und verspachtelte in der Küche meine morgendliche Ration Müsli. Dann machte ich mich auf den Weg zur Schule.
Draußen war es kühl. Der Herbst hatte definitiv begonnen. Brrr! Kälte und Nässe waren absolut nicht mein Ding. Warum konnte nicht immer die Sonne scheinen? Am besten noch mit einer Temperatur von mindestens 25 Grad? Ich verzog das Gesicht und riss den Reißverschluss meiner Jacke hoch bis zum Kinn. Schon besser.
Heute war ich so früh dran, dass ich sicherlich vor Liam an der Laterne sein würde. Seit dem denkwürdigen Abendessen trafen wir uns hier morgens immer. Eiligen Schrittes stürmte ich auf die kleine Kreuzung zu, an der sich die Laterne befand. Ich hatte recht: Weit und breit war noch nichts von ihm zu sehen. Deshalb versuchte ich mich mindestens genauso lässig gegen den Laternenpfahl zu lehnen, wie er es bis jetzt immer getan hatte - und wartete ... und wartete ... und wartete ...

»Heute lässt sich er aber verdammt viel Zeit«, murrte ich und rieb meine Hände gegeneinander, um ihnen, genau wie Liam vor kurzem, wieder etwas Leben einzuhauchen. Erfolglos. Ich fühlte mich wie ein lebendiger Eiszapfen. - Nein, das war untertrieben. Eher wie ein toter. Meine Hände waren eiskalt (Nicht, dass das etwas Neues gewesen wäre. Ich war eben von Natur aus eine absolute Frostbeule, aber diesmal waren sie noch kälter als sonst.) und meine Füße mittlerweile taub. An meine rote Rudolf-Rentier-Nase, die ich immer bekam, wenn ich mich zu lange Tiefkühltemperaturen aussetzte, wollte ich gar nicht erst denken. Das gab mit Sicherheit ein schönes Bild ab, wie ich hier stand: erfroren, unbeweglich und mit einer Nase im Gesicht, die jedem Leuchtturm Konkurrenz machen konnte. Sollte ich noch länger hier stehen müssen, würde ich mich nie wieder bewegen können. Soviel war sicher.
Nervös schaute ich auf die Uhr. Wenn Liam nicht bald kam, würde ich ohne ihn losgehen müssen, sonst käme ich zu spät zum Unterricht. Ich merkte, wie mir diese banale Einsicht einen kleinen Stich ins Herz versetzte. Wie albern! Schließlich war ich jahrelang alleine zur Schule gegangen. Trotzdem überlegte ich, ob es so schlimm wäre, wenn ich in meiner ganzen Schulzeit einmal zu spät kommen und noch ein bisschen auf Liam warten würde.
Ich hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da sah ich ihn plötzlich. Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf kam er um die Ecke geschlichen.
»Guten Morgen, Liam!«, flötete ich ihm fröhlich entgegen, doch er murmelte nur ein leises »Morgen« zurück. Seltsam. Normalerweise war er morgens immer gut gelaunt und ich diejenige, die morgenmuffelig vor sich hin brummte. - Oh nein! Obwohl ich ihn gerade mal eine Woche kannte, tat ich schon so, als würde ich ihn seit Jahren kennen. Doch es kam mir eben so vor.
»Und, gut geschlafen?«, versuchte ich es noch einmal, diesmal mit etwas mehr Elan.
»Be...« Er sah mich an. »...scheiden«, beendete er das Wort. Ich starrte zurück. Liam sah heute Morgen wirklich schrecklich aus! Ich hätte nie gedacht, dass ich mal so etwas über ihn sagen würde, doch hier half alles Schönreden nichts mehr. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, sein Haar war wuschelig (aber nicht auf diese einladende Art und Weise, sondern eher ungekämmt), unter seinen schwarzbraunen Augen zeichneten sich dicke Augenringe ab und seine leicht gebräunte Haut wirkte fahl, als hätte er nicht genügend Schlaf bekommen. - Nicht genügend Schlaf? Das war schon gar kein Ausdruck mehr. Er sah aus, als hätte er Wochen - ach Quatsch - Monate nicht geschlafen!
Liam griff nach meiner Schultasche, die ich reflexartig festhielt. Er machte nicht den Anschein, als könne er sich allein auf den Beinen halten, geschweige denn mit meiner Tasche voller Schulbücher.
»Gib her!«, knurrte er mir entgegen, ohne mich anzusehen und ich ließ eingeschüchtert los. So kannte ich Liam gar nicht. Bis jetzt war er immer so überaus höflich gewesen, dass es schon fast nicht mehr zum Aushalten war. Und jetzt? Ich amüsierte mich über die Ironie des Schicksals, da ich vorhin noch gedacht hatte, ich würde ihn schon ewig kennen.
Aber was war bloß los mit ihm? Was um alles in der Welt hatte er letzte Nacht getrieben?

Moonlit Nights 1 - GefundenWhere stories live. Discover now