Kapitel 42.

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Als ich ein erneutes Mal aufwache, könnte ich fast wieder denken, ich wäre im Himmel. Aber auch nur fast. Ein tiefes Brummen dringt in meine Ohren. Und noch dazu ist es nicht besonders warm. Aber ich liege auf einer weichen Fläche. Na immerhin.

So langsam regt es mich auf, dass ich nie weiß, wo ich aufwache. Ich schlage einfach die Augen auf. Über mir ist eine abgerundete Decke aus Metall. Nicht besonders hoch.

Ich weiß noch, wo ich zuletzt war. In einem Wald. Und dann war da noch etwas... Etwas wichtiges. Etwas, das ein Kribbeln in meinem Bauch verursacht... Jayden! Wo ist er?

Ich möchte mich aufsetzen. Aber ein graues Seil, das um meinen Rumpf geschlungen ist, hält mich am Boden fest. Ich stütze mich mit den Ellbogen ab und sofort durchfährt mich wieder ein fürchterlicher Schmerz im rechten Arm. Ich sinke wieder zum Boden. Als wäre dieser Schmerz nicht genug, fängt auch mein Kopf wieder an zu pochen.

„Laura!“, ruft jemand.

Ich drehe meinen Kopf zuerst nach links, dann nach rechts. Wie es aussieht, bin ich in einem Flugzeug! Und das macht mir Panik... Aber jetzt sehe ich die Person, die nach mir gerufen hat: Jayden. Mein Herz macht vor Glück einen Hüpfer. Das Erste, was mir auffällt, ist das große Pflaster, das auf seiner Nase klebt. Mit humpelnden Schritten kommt er auf mich zu. Er kniet sich neben mich. Ich sehe ihm zu, wie er die Seile an meinem Bauch und an den Beinen öffnet. Dann packt er mich unter den Schultern und zieht mich so hoch, dass ich sitze. Und kaum hocke ich stabil auf dem Boden, schlingt er schon seine Arme um mich und wir umarmen uns lange, ohne auch nur ein Wort zu wechseln.

Es ist erstaunlich, wie schnell das Band zwischen uns gewachsen ist. Es ist fast so, als würden wir uns schon Jahre kennen, nicht erst ein paar Wochen. Aber ich möchte ihn jetzt nicht loslassen.

Doch irgendwann löst er sich sanft aus unserer Umarmung und fragt leise: „Wie geht es dir?“

„Gut“, bringe ich über die Lippen, obwohl es eine Lüge ist. Und zwar eine sehr dicke. Eigentlich geht es mir echt beschissen. Aber das möchte ich ihm jetzt nicht sagen. Stattdessen frage ich: „Was ist passiert? Und wo sind wir?“ Ich habe keinerlei Erinnerungen. Mein Kopf schmerzt fürchterlich. Das Letzte, an das ich mich erinnere, war die Szene mit Jayden im Wald. Mir läuft ein kalter Schauder über den Rücken.

Er holt tief Luft, dann beginnt er: „Wir wollten nach Fort Hope fliegen. Mit den anderen Teilnehmern der Tour.“ Er macht eine Pause, damit ich Zeit habe, die Informationen zu verarbeiten. Doch als er das sagt, fällt mir alles wieder ein: wie wir zusammen am Flughafen saßen, wie wir ins Flugzeug eingestiegen sind. Ich erinnere mich sogar daran, wie sehr ich Angst hatte, dass irgendetwas Schlimmes während dem Flug passiert. Genau wie Jayden. Ich habe versucht, uns beide zu beruhigen. Uns einzureden, dass nichts passieren würde. Doch genau das ist nicht geschehen.

„Das Flugzeug ist abgestürzt“, hauche ich. Und dann rufe ich aufgeregt: „Wo sind die anderen?“

„Die anderen ...“ Er weicht kurz meinem Blick aus und ich male mir schlimme Dinge aus. „Sie sind in Fort Hope. Dort gibt es ein kleines Krankenhaus, in dem sie behandelt werden.“ Jetzt erst schaut er wieder zu mir.

„Und wieso sind wir hier?“ Soweit ich sehe, sind wir die Einzigen hier drin. Wieder fällt mir die abgerundete Decke auf, die mich an etwas erinnert.

Noch einmal weicht er meinem Blick aus. „Das ist eine lange Geschichte.“

„Ich möchte sie hören“, bestehe ich darauf.

Jayden holt tief Luft. „Ich weiß nicht...“

„Jayden!“, sage ich so laut es geht. Aber es klingt nicht einmal halb so autoritär, wie beabsichtigt, weil meine Stimme mitten im Wort bricht.

Noch einmal atmet er tief ein. Und dann erzählt er mir alles: „Es gab einen Streit. Sehr heftig. Nach dem Absturz ... waren einige schwer verletzt, andere ganz unversehrt.“ Seine Stimme geht beim letzten Wort in ein Knurren über. Ich glaube, er redet von den anderen Teilnehmern. „Daniel!“ Er spuckt seinen Namen vor meine Füße. „Er hat nicht einmal eine Schramme abbekommen.“ In seiner Stimme kann man eindeutig den Hass heraushören. „Avery dagegen hat sich gleich den Oberarm gebrochen.“ Unwillkürlich spüre ich auch wieder meinen rechten Unterarm. Er brennt und zwickt schrecklich. Sofort fährt mein gesunder Arm an die Stelle und erst jetzt sehe ich es: Jemand muss mir eine Schiene angelegt haben und mit ein paar Mullbinden umwickelt haben. Die Schiene ist nichts weiter als ein kleiner Stock. Jayden achtet gar nicht darauf, sondern spricht nur weiter: „Daniel hatte wie durch Zauberei ein unversehrtes Handy in seiner Hosentasche und hat damit die Betreuer darüber informiert, was passiert ist. Während alle anderen Handys durch den Absturz zerstört worden sind, war seines noch heil. Die Polizei hat einen Suchtrupp losgeschickt, um alle Überlebenden des Absturzes zu finden.“ Bei dem Wort 'Überlebende' zucke ich automatisch zusammen. Ist jemand gestorben?

Jayden setzt schon wieder zum nächsten Satz an, doch ich unterbreche ihn: „Haben alle überlebt?“

Er schaut mir kurz in die Augen, als würde er abschätzen, wie ich reagieren werde. Jayden zögert kurz, dann antwortet er doch: „Nein.“ Mein Herz macht einen Satz. Ich hoffe inständig, dass es niemand von den anderen Teilnehmern ist. Ich denke an Logan … sogar an Heather. Jayden macht eine ewige Pause, die ich kaum aushalte. Und dann erlöst er mich: „Es ist der Pilot. Man vermutet, dass er vor dem Abheben des Flugzeuges Drogen genommen hat, weshalb er nicht ganz bei der Sache war, als der Treibstofftank leer wurde und auch nur deshalb umgekommen ist, weil er nicht die Sicherheitsanweisungen beachtet hat. Vielleicht wären wir alle jetzt unverletzt, hätte er es getan. Nur wegen ihm sind wir überhaupt mit fast leerem Tank losgeflogen.“ Seine Hand zieht sich langsam zu einer Faust zusammen.

Das heißt also, dass sich niemand verletzt hätte, hätte der Pilot die Sache Ernst genommen. „Ich glaube, ich werde nie wieder in ein Flugzeug oder auch nur irgendein fliegendes Objekt steigen“, sage ich trotzig.

Plötzlich weicht die Wut aus Jaydens Gesicht und macht einem Lächeln Platz. „Schau dich mal um“, sagt er amüsiert. Leicht misstrauisch lasse ich den Blick um mich herum schweifen. Und dann fällt es mir ein: Ich bin in einem Hubschrauber! Vor lauter Aufregung habe ich diese Tatsache total vergessen! Und sofort bekomme ich wieder Panik. Sie schwillt in mir an wie ein großer Ballon, der gleich platzen wird. Jayden sieht meinen Blick und reagiert sofort.

„Schschsch...“, macht er ganz sanft, als ich hektisch versuche, aufzustehen. Einen Moment beruhigt es mich sogar, doch dann tauchen wieder die Erinnerungen vom Absturz auf und der Ballon in mir schwillt weiter an. „Laura!“, flüstert er und hält meine gesunde Hand auf dem Boden fest. Wieso hat er keine Angst?

„Wir könnten wieder abstürzen!“, schreie ich total panisch. Und sofort ist es mir peinlich, weil ich hysterisch versuche, aufzustehen. Schamröte steigt in mein Gesicht und ich halte kurz still.

„Das werden wir nicht!“ Er klingt sicher und seine Stimme beruhigt mich ein wenig.

„Wie kannst du dir da so sicher sein?“

„Nichts passiert zweimal auf dieselbe Weise!“, meint er klug. Er schenkt mir wieder eines seiner Lächeln und ich sinke auf den Boden zurück. Er scheint seine Angst gut vertuschen zu können. Auch wenn ich sehe, dass seine Hände zittern, beruhigt er mich ein wenig. „Wir sind gleich da!“, meint er.

Und tatsächlich geht der Pilot in den Landeanflug. Währenddessen reden wir kein einziges Wort. Ich habe sowieso zu viel Angst vor der Landung, um auch nur ein Gespräch anzufangen. Ich bin zu abgelenkt. Aber immerhin bin ich jetzt nicht mehr ganz so panisch wie vorher.

Trotzdem wage ich es nicht, die Fragen auszusprechen, die mir schon die ganze Zeit auf der Zunge liegen.

WoodkissWhere stories live. Discover now