Kapitel 61.

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Der Hubschrauber erhebt sich langsam und lässt eine sprachlose Menge unter sich. Nach einer gefühlten Ewigkeit, als ich mich endlich wieder einigermaßen fassen kann, kann ich ihn zuklappen. Ich habe das Gefühl, mein Kopf würde platzen vor lauter Fragen... So langsam habe ich echt genug von zu vielen Fragen ohne Antworten! Außerdem halte ich den Ansturm von Gefühlen nicht aus. Ich spüre die kochende Wut, die nagende Verzweiflung und nochmal die Wut.

„Was war das?“, krächzt Kim tonlos.

Vor meinem inneren Auge taucht immer wieder das Bild von Daniel auf, wie er mich anstarrt, bevor die Türe endgültig verschlossen ist. Mein Gehirn überschlägt sich von Erinnerungen, Fragen und Gefühlen. Ich sehe die Szene im Wald gestern, in der er mit jemandem gesprochen hat, den ich nicht kannte. Er sagte, dass er etwas nicht mehr aushielte und ihn da rausholen solle. Ich bin mir sicher, dass er die Tour meinte, denn das gerade eben würde diese Theorie nur unterstützen. Mein Gehirn lässt mich alles, was er gerade gesagt hat, nochmal erleben. Dazu spielt es wie im Film alle Szenen nochmal ab. Doch am meisten Kopfzerbrechen bereitet mir diese Frage: Wieso hat er mir das alles angetan?

Was habe ich ihm getan, dass er mich so behandelt? Er hat ein paar meiner Fragen beantwortet, dabei aber auch Neue aufgeworfen, die mich noch heftiger zu beschäftigen scheinen als die anderen.

Jackson und sein gesamtes Team rennen los, um nach den Booten zu sehen. Doch ich bleibe einfach stehen und lasse den Strom aus Gedanken über mich ergehen. Im Wechsel kneife ich die Augen zusammen oder balle meine Hand zur Faust. Ich spüre kaum, dass Jaydens Hand beruhigend auf meiner Schulter liegt.

Ich nehme eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr. Langsam bewege ich meinen Kopf in diese Richtung und erkenne Heather, die auf dem Absatz kehrt macht und einfach in den Wald davon geht. Ich muss nicht lange überlegen, ihr zu folgen.

Ich renne hinter ihr her, bis ich sie eingeholt habe. Aus Unschlüssigkeit, was ich sagen soll, halte ich einfach meinen Mund. Schweigend laufen wir in den Wald und mein Gehirn versucht krampfhaft, die Informationen zu verarbeiten. Die letzte Stunde spielt sich immer und immer wieder von allein ab, ohne dass ich etwas tun kann. Und dazu laufen wie der Soundtrack bei einem Film im Hintergrund tausend Fragen ab.

Wieso wurde Daniel abgeholt? Was wollte er mit dem Blick sagen? Was ist mit Heather los? Warum hat Jayden so auf das Brummen des Helikopters reagiert? Was passiert jetzt? Wieso sind wir jetzt auf uns allein gestellt? Waren wir das vorher nicht auch schon? Meinte er, dass wir jetzt keinen Empfang haben? Dass uns niemand helfen kann? Aber das wussten wir doch bereits... Und was hat sich geändert, außer, dass Daniel uns verlassen hat? Wieso haben sie die Flöße zerstört? Ich habe das Gefühl, als würde ich etwas übersehen... Etwas Wichtiges... Aber ich komme nicht drauf!

Was verdammt sollen wir jetzt tun?

Sollen wir jetzt einfach normal weiter machen, als wäre nichts passiert? Ich glaube nicht, dass das geschehen wird. Wir können nicht einfach vertuschen, dass plötzlich eine Person fehlt...

Völlig in meine Gedanken versunken bemerke ich gar nicht, dass Heather angehalten hat. Ich laufe einfach weiter. Aber als sie mich ruft, bleibe ich ruckartig stehen: „Was willst du, Laura?“ Sie klingt leicht erbost.

Ich drehe mich zu ihr um, damit ich ihr ins Gesicht sehen kann. Wir stehen jetzt tief im Wald, weit von den anderen entfernt. „Ich will wissen, was mit dir los ist, Heather!“ Das klang ein wenig anklagender als beabsichtigt.

Sie schnaubt nur und geht mit schnellen Schritten an mir vorbei. „Das geht dich nichts an!“

Fassungslos bleibe ich stehen und sehe ihr nach. „Heather! Warte doch!“, rufe ich ihr hinterher und bin ein wenig überrascht, als sie tatsächlich stehen bleibt. „Geht es um Daniel?“ Sie steht mit dem Rücken zu mir, weshalb ich ihr Gesicht nicht erkennen kann. Ich erwarte, dass sie sich gleich umdreht und mich böse anstarrt. Aber stattdessen schaut sie mich mit großen, schmerzerfüllten Augen an. Sie kommt wieder in meine Richtung und streckt völlig unerwartet die Arme aus. Kaum einen Meter von mir entfernt bricht sie in Tränen aus und stürzt mit ausgestreckten Armen nach vorne auf mich zu. Ich hechte zu ihr und fasse sie gerade noch so. Ich ziehe sie auf die Beine und mache ihr mit einem leichten Stups klar, dass sie jetzt normal stehen kann. Doch sie verharrt länger in der Umarmung (oder Umklammerung) und ihr Schluchzen erschüttert genauso meinen Körper. Ich streiche ihr sanft über den Rücken, als wäre sie meine jüngere Schwester, die ich trösten würde. Ich weiß noch nicht einmal, um was es überhaupt geht, aber ich lasse sie einfach weinen. Ich weiß, dass Tränen befreien können.

Wir stehen lange einfach so da. Ich muss mich bemühen, nicht gleich nach hinten zu kippen, weil ihr gesamtes Gewicht auf mir lastet. Aber ich halte es ihr zu Liebe aus und lasse mir nichts anmerken.

Irgendwann beruhigt sie sich und wir lehnen uns an einen Baumstamm. Noch einmal erzittert sie von einem heftigen Schluchzen. „Es ist Daniel“, gibt sie zu. „Er...“ Sie ringt um Worte und macht wilde Gesten mit den Händen. Sie kämpft lange mit sich selbst, ohne etwas zu sagen. Ich warte, ohne zu murren. Ich halte es kaum noch aus vor Spannung. Dann bricht es endlich aus ihr heraus: „Er ist mein Stiefbruder!“

WoodkissWhere stories live. Discover now