Kapitel 52.

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Und dann erzähle ich ihr alles. Ob ich es will oder nicht, sie zwingt mich fast dazu, ihr alles über den Absturz zu erzählen. Sie ist eine der besten Zuhörerinnen, die ich je gekannt habe. Sie beruhigt mich leicht, wenn ich zu schluchzen anfange und lässt mir zu Ende erzählen, ohne mich zu unterbrechen. Während dieser halben Stunde, in der ich mit ihr telefoniere, erlebe ich ein Gefühlschaos wie nie zuvor. Ich schwanke von Glück zu tiefer Traurigkeit. Von Wut zu Erleichterung und Freude.

Meine Wut richtet sich an Daniel und die gesamte Firma, die mich das alles hat erleben lassen. Ich weiß, dass es eigentlich nicht ihre Schuld ist, aber ich brauche einfach irgendetwas, wo ich meine Wut rauslassen kann. Und ein kleines bisschen bin ich auch wütend auf mich. Weil ich mich dazu entschieden habe, teilzunehmen. Ich hätte es nie tun sollen. Wenn ich mich nie dazu entschlossen hätte, oder vielleicht mehr darüber nachgedacht hätte, hätte ich keinen Flugzeugabsturz erlebt und auch keine Unterkühlung erlitten. Und wozu das alles? Der einzige Grund, teilzunehmen, war, mich abzulenken von Liam und dem ganzen Leben. Und was hat es gebracht? Nichts. Rein gar nichts. Es hat genau das Gegenteil des Ziels bewirkt. Ich habe Jayden kennengelernt. Das mag vielleicht schön und gut sein, aber dennoch erinnert er mich immer wieder an Liam.

Bei diesen Gedanken bekomme ich einen richtigen Heulkrampf. Ich hebe nur noch das Telefon an mein Ohr und schluchze vor mich hin. Ich will es unterdrücken, aber es funktioniert nicht. Immer wenn ich mich gerade beruhigen will, kommt ein Schwall neuer Gedanken und reißt mich wieder davon. Es ist, als würde ich in einem Meer schwimmen und immer wenn ich alle paar Sekunden wieder auftauche, von einer Welle nach unten gerissen werden. Nur um dann wieder an die Oberfläche getragen zu werden. Ich weiß nicht, wie lange ich an der Wand gekauert dasitze und in das Telefon schluchze. Meine Mum wartet nur still am anderen Ende der Leitung und hört zu. Sie sagt kein Wort. Sie lässt mich einfach weinen. Und das schätze ich an ihr.

Erst als ich einigermaßen frei bin von den „Gefühlswellen“ in mir, sagt sie leise: „Ich kann dich da rausholen, wenn du willst. Du musst dich nicht weiter quälen. Ich tue was ich kann, um dich aus der Tour herauszunehmen. Du wirst nur noch ein paar Tage durchhalten müssen, bis ihr in Timmins seid.“ Sie macht eine kurze Pause, dann meint sie so leise, dass ich sie fast nicht hören kann: „Mich wundert es sowieso, dass sie die Tour weiter führen, nach dem Absturz!“

Meine Antwort ist nichts weiter als ein Wimmern. Ich glaube, meine Mum wertet das als „Ja“. „Es tut mir Leid, Laura, aber ich muss jetzt auflegen. Lisa wartet auf mich. Ruf mich an, wenn du mich brauchst. Ich habe mein Handy eingeschaltet!“ Und damit legt sie auf.

Ich drücke ebenfalls auf den roten Knopf des Handys und bemerke, wie feucht es ist. Meine Tränen haben es komplett durchnässt. Für einen kurzen Moment blinkt die Zeit unseres Gesprächs auf: 45:57 Minuten. Mir kam es viel kürzer vor. Mit einem neuen Ansturm von Gefühlen wische ich das feuchte Telefon an meiner Hose ab.

Ich sitze noch eine Weile da und lasse einfach die Wellen der Gefühle über mich ergehen. Ich habe kein Zeitgefühl mehr und ich werde erst wieder unterbrochen, als die Türe zum Flur aufgeht und Heather hineinkommt. Sie kommt sofort zu mir und nimmt mich in den Arm. Wir liegen uns ewig in den Armen und sie löst sich erst aus unserer Umarmung, als Helene hereinkommt, um uns zum Essen zu holen. Ich gebe ihr nur stumm das Handy zurück.

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Ich liege wieder erschöpft in meinem Bett. Ich weiß nicht, ob ich erleichtert sein soll, dass ich morgen hier wegkommen werde oder es bedauern soll. Ich werde auf jeden Fall das weiche Bett vermissen. Und das gute Essen. Ab morgen wird es nur wieder zähen Fisch und Früchte geben. Aber um dieses gruslige Haus werde ich bestimmt nicht traurig sein. Ich weiß, dass Heather sich heute noch unbedingt den linken Flügel des Hauses anschauen möchte, aber ich werde definitiv nicht mitkommen. Dafür bin ich viel zu erschöpft...

Ich versuche, auf andere Gedanken zu kommen, doch ich kehre immer wieder zu dem zurück, was meine Mum am Ende unseres Telefonats gesagt hat: Ich tue was ich kann, um dich aus der Tour herauszunehmen. Ich bin mir sicher, dass sie das tun würde. Doch ich weiß nicht, ob ich es gut oder schlecht finden soll, wenn sie mit den Veranstaltern redet. Einerseits will ich nichts lieber, als endlich wieder nach Hause zu kommen. Aber was würden die anderen dann von mir denken? Daniel würde mich vielleicht als Weichei verspotten, wenn ich jetzt abhaue und Heather würde mich nicht gehen lassen. Und Jayden? Um ihn möchte ich mir gar keine Gedanken machen. Er wird furchtbar enttäuscht sein. Und eigentlich möchte ich ganz tief in mir auch gar nicht, dass ich ihn verlasse. Ich kann mir das Gefühl nicht erklären, das immer auftaucht, wenn ich an ihn denke. Vielleicht verdränge ich es auch ein Stück weit. Und was würde erst der Moderator sagen, wenn ich jetzt aufgebe? Ich möchte es mir gar nicht vorstellen... Außerdem steht es zu 90%, dass sie es mir sowieso nicht erlauben, die Teilnahme zurückzutreten.

Schlussendlich entscheide ich mich dagegen, aufzugeben. Ich werde die Tour zu Ende bringen. Egal was passiert.

Und mit diesen Gedanken hole ich mir Helenes Handy noch einmal und wähle Mums Nummer.

- - -

Ich wache von Sonnenstrahlen geweckt auf. Ich weiß sofort, was heute passieren wird. Wir werden wieder nach Timmins zurückkehren. Etwas steif in den Beinen erhebe ich mich aus dem Bett und ziehe die Vorhänge der Fenster zurück. Die Sonne blendet mich. Ich schließe die Augen und lasse sie einfach auf mein Gesicht scheinen.

Ich erinnere mich an gestern Abend, als Mum mir angeboten hat, mich aus der Tour zu nehmen. Ich habe sie später nochmal angerufen und ihr gesagt, dass ich es nicht will. Sie hat es sofort akzeptiert und es auch verstanden, warum ich es nicht möchte. Ich weiß, dass sie es lieber hätte, wenn ich zu Hause wäre.

Außerdem bin ich froh darüber, dass Heather komplett vergessen hat, dass sie sich noch den linken Flügel des Hauses anschauen wollte. Wahrscheinlich war auch sie zu müde dafür.

Ich genieße das letzte richtige Frühstück mit Pancakes und Beeren hier und danach verabschieden wir uns von Helene, Johanna und Ethan. Helene gibt Heather und mir zwei Plastiktüten, in die wir unsere Sachen stecken können. Bei mir ist es sowieso nicht viel. Alles was ich habe, sind die Waschsachen, die ebenfalls Helene uns geschenkt hat und ein paar alte Klamotten von Ethan und Johanna. Ich hoffe, noch ein paar Dinge von der Polizei zu bekommen, wie Benjamin es uns gestern erklärt hat.

Und so steigen wir in die schwarze Limousine.

WoodkissWhere stories live. Discover now