Kapitel 3

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Nein!

Das dürfte nicht wahr sein!

Ich schrie laut auf vor Schreck.
Nein! Nein! Nein! Nein!

Man dürfte niemals jemand anderen mit dem Pfeil treffen und schon gar nicht sich selber!

Pure Panik breitete sich in mir aus.
"Amy, alles gut!", hörte ich Timo sagen. "Es war nur ein Schneeball! Hast du dir wehgetan!"

Entgeisterte sah ich ihn an. Die Pfeile hatten uns beide getroffen!

Mensch und Amora dürften sich jedoch niemals lieben.

Sein Gesicht schob sich besorgt in mein Sichtfeld. Er runzelte die Stirn.

Mir fiel auf, was er für wunderschöne hellblaue Augen hatte. Noch nie zuvor hatte ich ihn auf diese Art und Weise betrachtet. Er hatte tolle Lippen und lange Wimpern. Seine Haut war rein und verziert von ein paar Sommersprossen, die ihm trotz seiner großen Statur immer noch ein wenig jungenhaft aussehen ließen.

Noch nie zuvor hatte ich ihn auf diese Art und Weise betrachtet.

"War in dem Schneeball ein Stein?", fragte er und begann dann meinen Kopf zu begutachten und abzutasten. Dabei ging er so sanft vor, als wäre ich ein rohes Ei. Sein Berührungen ließen mich erstarren. Noch nie zuvor hatte ich die körperliche Nähe eines Menschen auf diese Art und Weise genossen.

"Zumindest kein Blut!", ließ er mich wissen. "Aber vielleicht hast du eine Gehirnerschütterung. Du wirkst ein bisschen durcheinander."

Noch immer starrte ich ihn einfach nur an und konnte kein Wort hervorbringen.

Ich hatte keine Ahnung, was für Konsequenzen all das haben würde, doch es konnte nichts Gutes bedeuten.

Timo richtete mich behutsam auf. Sein Gesicht war meinem erstaunlich nah. So nah, sodass sein gefrorener Atem mich erreichte.

"Ist dir schlecht?", hakte er kritisch nach.

Ich schüttelte den Kopf und konnte meinen Blick nicht von ihm abwenden.

Ich war verliebt in ihn. So fühlte sich das also an. Ich hatte das Bedürfnis nie wieder von seiner Seite zu weichen.

War das vielleicht die Strafe? War ich unsterblich in ihn verliebt, während bei ihm der Pfeil keine Wirkung zeigte? Denn im Moment wirkte er auf mich sehr normal.

War ich nun für immer zur unerwiderten Liebe verdammt?
Plötzlich liefen Tränen über meine Wangen. Was hatte ich nur getan?
Timo zögerte keine Sekunde und strich liebevoll die Träne weg. Er war dabei unglaublich sanft. Es fühlte sich so gut an, ihm so nah zu sein und gleichzeitig wusste ich, dass ich das auf keinen Fall zulassen dürfte.

"Warum weinst du denn?", flüsterte er mir ins Ohr und strich nun mit der gesamten Hand über meine Wange.

Als ich nicht antwortete, schloss er mich in eine Umarmung. Das machte die ganze Situation nur noch schlimmer.

Trotzdem drückte ihn fest an mich und es fühlte sich an, als hätte ich mein ganzes Leben nur darauf gewartet so von ihm umarmt zu werden. Seine Wärme durchflutete meinen Körper und er roch wie eine frische Sommerbrise. Und das mitten im Winter.

Ich ertrug das nicht. Was hatte ich nur angerichtet?

Ich schob ihn kraftvoll von mir weg. Perplex sah er mich an.

"Amy", hauchte er.

"Ich muss hier weg", sagte ich vollkommen erschöpft. "Ich muss einfach nur hier weg!"
"Jetzt beruhige dich doch erst einmal! Ich lass dich so nicht allein nach Hause gehen. Du bist ja ganz durcheinander."

Er wollte nach meinem Unterarm greifen, doch ich ging einen Schritt nach hinten.

"Lass mich!", fauchte ich ihn an und man konnte ihm ansehen, dass er die Welt nicht mehr verstand. "Lass mich einfach in Ruhe!"

Ich spürte, wie er überlegte einen Krankenwagen zu rufen. Auf ihn musste ich komplett irre wirken und wenn ich ehrlich zu mir selbst war, dann stimmte das auch.

Ich begann loszurennen.

Ich musste erst einmal einen klaren Kopf bekommen und würde sicherlich nicht in seiner Anwesenheit geschehen.

"Hey! Pass auf! Es ist arschglatt!", rief er mir hinterher. Ich sah über meine Schulter und musste feststellen, dass er mir folgte.

Ich lief noch schneller, immer mit der begleitenden Gefahr jeden Moment auszurutschen.

"Amy! Warte!", rief er. Dann hörte ich ein Krachen und als ich mich umdrehte, sah ich, dass er am Boden lag.
Ich hatte das dringende Bedürfnis stehen zu bleiben und ihm aufzuhelfen, doch ich entschied mich dagegen. Je weiter ich von ihm weg war, desto besser.

Ich musste irgendwie meinen Verstand wieder aktivieren. Vielleicht gab es ja noch einen Weg, um all das rückgängig zu machen.

Meine Schritte wurden immer schneller. Schließlich erreichte ich mein Zuhause. Sofort stürmte ich nach oben in mein Zimmer und schmiss mich auf mein Bett. Fette Tränen kullerte über meine Wangen.

Ich hatte alles vermasselt. Wie hatte mir nur so ein gravierender Fehler passieren können?

Was würde nun mit mir geschehen? Was passierte, wenn eine Amora sich selbst getroffen hatte? War sie für eine Ewigkeit verdammt? Starb ich vielleicht? Ich hatte noch nie zuvor von so einem Fall gehört. Denn natürlich wussten alle, dass ein Pfeil niemals eine andere Person treffen dürfte. Und schon gar nicht einen selbst.

Aber es war doch ein Unfall gewesen! Ich hatte all das doch nicht gehört. WIe hätte ich denn ahnen können, dass mich ausgerechnet in diesem Augenblick ein verdammter Schneeball am Hinterkopf trifft.

"AMY!", hörte ich Timos Stimme gedämpft durch das angekippte Fenster. "Ich weiß, dass du da bist. Sag mir doch bitte, was los ist?"

Ich rappelte mich vom Bett auf und sah aus dem Fenster. Unsere Blicke trafen sich.

Es schmerzte mich so sehr ihn zu sehen. Er sah verletzt aus. Nicht körperlich, sondern seelisch.

"Es geht mir gut. Bitte geh!"

"Willst du mir nicht sagen, was los ist? Du weißt doch, dass du mir alles sagen kannst!"

"Bitte geh einfach", flehte ich verzweifelt.

Er nickte enttäuscht.

"Okay, aber falls du jemanden zum Reden brauchst, ruf mich an. Verstanden?"

Ich nickte, während ich das Gefühl hatte, dass mein Herz in der Brust fast explodierte.

Dann drehte er sich um und lief mit hängendem Kopf durch den Schneesturm. Dieser Anblick löste den nächsten Heulkrampf aus.

Ich schloss das Fenster und schmiss mich auf mein Bett. Ich hatte das Gefühl, mein gesamtes Leben an die Wand gefahren zu haben. 

AmoraWhere stories live. Discover now