Kapitel 10

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Ich bekam das Foto nicht mehr aus dem Kopf. Ich wünschte, Oma wäre ehrlich zu mir gewesen. Wenn ihr wirklich das Gleiche wie mir passiert war, konnte sie mir mit Sicherheit helfen. Für mich stand fest, dass sie ihn zumindest geliebt hatte. Das hatte ich von ihren Augen ablesen können.

Ich fühlte mich mit meinem Problem so allein gelassen.

"Schatz, Timo ist da!", ließ meine Mama mich wissen, nachdem es an der Tür geklingelt hatte. "Kann er hochkommen?"

"Klar", antwortete ich sofort und richtete meine Haare, um ein bisschen ansehnlicher auszusehen. Vor einer Woche wäre es mir noch egal gewesen. Ich schlüpfte schnell aus meiner Jogginghose in einer Jeans und ein enganliegendes Shirt an.

Ich hörte, wie seine Schritte die Treppe hinaufkamen. Augenblicklich schlug mein Herz doppelt so schnell wie gewöhnlich.

"Hey, du krankes Huhn", begrüßte er mich lächelnd.

Und sofort könnte ich dahinschmelzen. Sein Lächeln raubte mir den Atem. Er stand dort, als wäre er die Hauptfigur aus einer romantischen Komödie: Fast schon zu perfekt!

"Hallo", brachte ich nur mit Mühe hervor.

Es schien so, als verliebte ich mich jeden Tag noch mehr in ihn. Falls das überhaupt möglich war. "Wie geht's?", erkundigte ich mich mit verschnupfter Stimme.

"Gut! Ich bin wieder vollkommen aufgetaut, im Gegensatz zu dir, Eisprinzessin!"

Als er mich Eisprinzessin genannt hatte, kribbelte es in meinem Magen, als hätte man eine ganze Packung Brausetabletten dort hineingeworfen. Timo setzte sich in den Ohrensessel, den ich erst heute Vormittag von meiner Dreckwäsche befreit hatte.

Ich ließ mich auf mein Bett fallen.

Die Unbeschwertheit unserer Freundschaft war verschwunden. Dafür war nun dieses Knistern da, das man nicht überhören konnte.

"Wie geht es dir denn?", fragte er nun ernsthafter und lehnte sich nach vorne.

"Nur ein bisschen Schnupfen", antworte ich.

"Kein Wunder. Aber zum Glück ist es nur ein Schnupfen und nicht gleich eine Lungenentzündung."

Ich hätte Liebe eine Lungenentzündung anstelle meines gebrochenen Herzens.

Dann begann Timo in seinem Rucksack herum zu wühlen.

"Ich habe dir etwas mitgebracht", ließ er mich wissen, während er weiterkramte.

"Ach ja?"

"Ja. Einmal ein Erkältungsbad..." Er warf mir einen Badezusatz zu, den ich gekonnt auffing. "Dann einen Erkältungstee." Auch diese Schachtel warf mir gekonnt zu. "Und natürlich Schokolade für die Seele." Er zog eine Packung Schokobons hervor. "Hoffentlich beschleunigt das die Heilung!", sagte er liebevoll.

Ich wusste gar nicht, wie mir geschah oder was ich sagen sollte. Das unfassbar nett. Um genau sein, war es richtig süß.

"Danke, Timo", sagte ich perplex. "Das hättest nicht tun müssen. Aber trotzdem danke."

"Gerne", sagte er beiläufig. "Hauptsache, du wirst schnell wieder gesund. Schule ohne dich ist nur halb so unterhaltsam."

Er war perfekt. Einfach nur perfekt.

"Das ist echt süß von dir."

Er lächelte nun verlegen und das erwärmte mein Herz noch mehr. Seine Wangen erröteten leicht. Timo stand auf und kam zu mir herüber. Er legte sich neben mich aufs Bett.

Er roch so verdammt gut. Wie konnte man nach einem Schultag, an dem man sogar Sportunterricht gehabt hatte, noch so gut riechen?

Seine Nähe fühlte sich so gut an und ihm schien es genauso zu gehen. Er griff nach meiner Hand.

Seine Hände waren warm und weich.

Ich schloss für einen Moment die Augen, um mich zu beherrschen. Ich durfte ihn auf keinen Fall näher an mich heranlassen. Noch immer war ich mir nicht sicher, was passieren würde, wenn ich ihn küssen würde.

Er drehte sein Gesicht zu mir, sodass sich unsere Nasenspitzen gefährlich nahe waren.

Ich sah ihm in die Augen und hatte das Gefühl ihm direkt in die Seele sehen zu können. Timo gehörte zu den Menschen, die authentisch waren. Er war von der Sorte Mensch, die für die Mitmenschen immer nur das Beste wollten. Leider gab es davon viel zu wenig auf dieser Welt.

"Du bist so hübsch", hauchte er kaum hörbar und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Sofort spürte ich wie meine Haut zu glühen begann.

"Und du bist süß, wenn du verlegen bist", fuhr er fort und streichelte mir nun über die Wange. Ich konnte mich nicht dagegen wehren und ließ es zu.

War er gerade dabei mir seine Liebe zu gestehen?

Ich war mit einem Mal verstummt und konnte kein Wort über meine Lippen bringen.

Timo beugte sich vor und legte seine Lippen sanft auf meine. Es war das schönste Gefühl, das ich jemals gespürt hatte. Und es machte gierig. Ich wollte den Kuss erwidern. Ich wollte seine Hände an meinem Körper spüren. Ich wollte seine Küsse auf jedem Quadratzentimeter meiner Haut spüren.

Doch ich konnte nicht. Ich durfte auf gar keinen Fall seinen Kuss erwidern, denn ich wusste nicht, was dann passieren würde. Es war wohl der härteste Kampf, den ich je hatte kämpfen müssen: Seinem Kuss zu widerstehen.

Ich lag einfach nur da und ließ zu, dass er meine Lippen berührte.

Schnell bemerkte Timo, dass ich nicht so reagierte, wie er es sich vorgestellt hatte. Schließlich hielt er inne und zog enttäuscht seinen Kopf zurück.

Er sah zu Boden und schien zutiefst betrübt. Mein Herz hielt diesen Anblick kaum aus.

Timo biss sich auf die Unterlippe und zwischen uns entstand eine unangenehme Stille.

"Es tut mir so leid, Timo", flüsterte ich und griff nach seiner Hand.

Er zog sie weg. Dann sah er zu mir auf. Seine Augen waren glasig.

"Man kann Gefühle nicht erzwingen", gab er verbittert aber tapfer von sich. "Das muss ich wohl akzeptieren. Auch wenn es mir schwer fällt."

Ich ertrug seinen Anblick kaum. Er hatte kein gebrochenes Herz verdient. Ich hatte den Fehler gemacht. Der Pfeil hatte seine Gefühl nur noch intensiviert. Ich hatte es verdient zu leiden, aber doch nicht er. Ich wünschte, ich könnte ihn irgendwie von seinem Schmerz befreien.

"Timo, ich wünschte, ich könnte es dir erklären, aber-."

Er hielt die Hand hoch, um mir zu signalisieren, dass ich nicht weiterreden sollte. Ich gehorchte.

"Ist schon gut", sagte er angeschlagen. "Du musst dich nicht erklären. Es soll wohl einfach nicht sein."

Eine Träne kullerte über seine Wange. Schnell wischte er sie sich weg und tat, als hätte sie nie existiert.
"Ich will dich nicht als Freund verlieren. Du bedeutest mir so viel."

Er lächelte tapfer.
"Wir kriegen das schon irgendwie hin", versuchte er stark zu klingen.

War das wirklich so? Konnten wir wirklich noch zu einer normalen Freundschaft zurückkehren? Hielt eine Freundschaft eine unerwiderte Liebe aus?

"Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt gehe", sagte er schließlich und sprang hektisch vom Bett auf.

"Timo, bitte bleib noch!", flehte ich ihn an.

Er sah zu mir herab.

"Deine Mama und deine Oma werden sich schon gut um dich kümmern. Du bist in den besten Händen."

"Aber nicht in deinen", erwiderte ich sofort.

Er seufzte laut.

"Weißt du, Amy: Wegen Aussagen wie diesen, dachte ich, dass du genauso fühlst wie ich." Das tat ich doch auch! Timo, wenn du nur wüsstest, wie kompliziert das alles war. "Ich dachte wirklich, dass du dich über den Kuss freuen würdest. Ich dachte, zwischen uns wäre mehr als nur Freundschaft." Er schluckte schwer. "Aber da habe ich mich wohl geirrt. Tut mir leid, falls ich dich bedrängt habe. Das war nicht meine Absicht", entschuldigte er sich aufrichtig. 

AmoraWo Geschichten leben. Entdecke jetzt