Fast 160g [Slam]

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[Mein aktuellster Slam. Inspiriert von wahren und halbwahren Ereignissen aus meinem mehr oder minder spannenden Leben. Was kann einem beim Einkaufen schon passieren?
Vorgetragen am 5.12.18 beim Jägerslam in Hamburg]


Zufrieden laufe ich durch den Supermarkt meines Vertrauens, glücklich und entspannt. Ein durchaus seltener Gemütszustand bei dem Erwerb neuer Nahrungsmittel, die ich dringend brauche um zunächst meinen Kühlschrank und dann meinen Magen zu füllen. Weil ich mich gerade so gut fühle, beschließe ich, mein Ego mit einer Portion frischer Wurstwaren aus der Frischwurtsstheke zu belohnen. Ich fühle mich er- und der Sache gewachsen. Lächelnd trete ich an die Scheibe. 

„Moin Moin, was darf es sein?" 

Mein erster Gedanke ist: ‚Moin moin ist für Schnacker. Das kann ja was werden.' Mein zweiter: ‚Du bist stark. Du kannst das!' In meinem Kopf habe ich die Antwort schon vorbereitet:
„Moin. 150g Mettwurst bitte."

Stolz darauf, meinen Wunsch ohne Stottern hervorgebracht zu haben, entgeht mir fast die nächste Frage.

„Von welcher?" 

Immer noch lächelnd blickt mich die Wurtswarenfachverkäuferin an. Ob sie meine Angst riechen kann? Ob sie davon lebt? Fast könnte man ihr Lächeln als diabolisch bezeichnen, aber dieser Eindruck könnte auch durch die unvorteilhafte Beleuchtung hinter dem Tresen hervorgerufen werden. 

Ich bin verwirrt. Es gibt Unterschiede?! Leicht zittrig wage ich eine Gegenfrage.
„Was haben Sie denn so?" 

Die Antwort folgt prompt. Sabine, ich kann ihren Namen auf einem kleinen Schild an ihrer Brust lesen, rattert die Auswahl an verschiedenen dargebotenen Mettwurstsorten herunter, während sie gleichzeitig mit ihrer Wurstgabel auf das jeweilige Produkt zeigt.

„Also wir haben
- Der Klassiker, Katenrauchmettwurst. Aus einer regionalen Schlachterei
- Aalrauchmettwurst,
- Hamburger Grobe
- Französische Mettwurst, wenn Sie es ein bisschen härter mögen
- Wenn Sie es mager lieber mögen kann ich die Hausmacher empfehlen
- Knoblauchmettwurst, die ist schön würzig
- Im Angebot Holsteiner und Pommersche
- Lothringer
- Und Schinkenmettwurst
Zum Streichen hätten wir hier noch
- Berliner, vorwiegend aus Rindfleisch
- Braunschweiger nur aus Schwein
- Bei der Einfachen Mettwurst mit allem gemischt
- Eine Grobe mit Kümmel für die Verdauung (ein wissendes Zwinkern)
- Und zum Schluss noch Mettwurst nach Göttinger Art
Also mein Favorit ist ja die Holsteiner Mettwurst, bin ich mit groß geworden." 
Jetzt legt Sabine erwartungsvoll den Kopf schief und schaut mich mit großen Augen an. 

Um den Erwartungsdruck auf mich zu erhöhen mischt sich ein älterer Herr hinter mir in der Schlange in das Verkaufsgespräch ein: „Also ich bervorzug' die Katenrauchmettwurst. Ist mit einem Schuss Rum." Dabei zwinkert er mir zu. Ich schüttele mich und lächele gekrampft zurück.

Sabine scheint trotz der immer länger werdenden Schlange Zeit zu haben und sich die auch nehmen zu wolle, um mich leiden zu sehen.

Ich bin völlig sprachlos und von der schieren Auswahl überwältigt. Der Wurstwarenvortrag ist spurlos an mir vorübergezogen. Also zeige ich einfach nur auf irgendeine, die lecker aussieht.

„Davon, bitte."

„Von der Hamburger Groben also?"

[Nicken] 

„150g waren das?" 

[Eifriges nicken] Bloß nichts mehr sagen! 

Gespannt verfolge ich, wie mein sympathischer Folterknecht mit seiner und der Wurst passiert, dann kommt auch schon die nächste Frage, mit der ich allerdings schon gerechnet habe, was mich innerlich ein bisschen triumphieren lässt. 

„Darf es ein bisschen mehr sein?"
Erneut dieser erwartungsvolle Blick. Ich versuche gelassen zu bleiben, gerate ins Grübeln. Darf es? Darf es mehr sein? Von der Wurst oder allgemein? Darf das Leben auch manchmal ein bisschen mehr sein? Oder lieber weniger. Das ist nicht so riskant. Weniger Leben heißt aber auch, weniger erleben. Weniger am Leben teilnehmen, aber mit den gleichen Konsequenzen. Irgendwann ist man tot. Die Frage ist ja nur, wann. Wenn man nun mehr lebt, ist das Risiko, früher zu sterben deutlich erhöht. Dafür hat man aber auch mehr vom Leben an und für sich gehabt.
Gehe ich dieses Risiko ein? Darf es ein bisschen mehr sein?
Ich tauche erst aus meinen Überlegungen auf, als Sabine ungeduldig mit ihrer Hand vor meinen Augen wedelt. 

„Und?"

Ich fasse mir ein Herz, wage einen Blick auf die Grammanzeige der Wurstwarenwaage. 159g steht da. Ich entspanne mich und beschließe heute aufs Ganze zu gehen. Wenn schon denn schon. 

„Ja, ja das passt so!", bringe ich keuchend hervor. Schweißperlen laufen über meine Stirn. Nie hätte ich gedacht, dass Wurst kaufen so anstrengend sein kann!

Die folgende Frage täuscht unschuldig vorgebracht vor Sabines hinterhältigen Charakter. 

„Sonst noch was?"

Meine Gelegenheit zur Flucht.
„Nein. Das ist alles! Dankeschön!" 

Ich schnappe mir mein kleines dünnes Päckchen stolz, murmle eine Verabschiedung und flüchte Richtung Süßwarenabteilung, um mich dort mit einer Portion Zucker wieder aufzubauen. Schokolade stellt keine Fragen. Schokolade ist mein Freund. 

Während Ich zu Hause meine erbeuteten Schätze aus dem Supermarkt in mich anstatt in den Kühlschrank stopfe, um mein seelisches Gleichgewicht wieder herzustellen, kommt mir ein Gedanke.
Nächstes Mal muss ich die Initiative ergreifen.
Ich werde mutig an die Käsetheke herantreten und sagen:
„Moin, ich hätte gerne einen cremigen milden mit leicht würzigem Abgang."
Und dann werde ich mich an den Schweißperlen der überforderten Verkäuferin ergötzen.

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