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Den Rest des Tages streifte ich durch das Schloss, ließ mir von Nessaja die wichtigsten Räume zeigen und hörte mir die Anekdoten an, die sie zu den meisten Orten des Palastes hatte. Der Großteil der Geschichten die sie mir erzählte, waren von ihr und Aaliyah. Von Kale, Coldien und Warin. Ich erfuhr, dass Vittoria erst deutlich später zur Gruppe dazugestoßen war, wobei Nessaja nicht darüber sprach wie sie und Warin sich getroffen hatten. Sie deutete lediglich an, dass diese Geschichte keine Glückliche war. Ich beließ es dabei. Vielleicht würde Vittoria sie mir eines Tages selbst erzählen.

Arden sah ich den ganzen Tag über nicht. Laut meiner Schwester hatte er sich mit Kale, Warin, Vittoria und Aaliyah in seinem Arbeitszimmer vergraben und sprach das weitere Vorgehen durch.

Aber es störte mich nicht, es tat gut Zeit mit Nessaja zu verbringen. Ihr wieder näher zu kommen. Die Frau kennenzulernen, zu der sie geworden war. Es fühlte sich an als würde unsere Freundschaft wieder wachsen. Als würde das dünne Band, dass uns immer verbunden hatte wieder stärker und fester werden.

Wir saßen einige Stunden in der kleinen Bibliothek in einem der Türme, durch dessen große Fenster man einen wundervollen Blick über die verschneiten Berggipfel hatten, tranken warmen Punsch und aßen Gebäck, während ich ihr von meiner Zeit bei den Rebellen erzählte. Von den Ecken des Landes, in die ich gekommen war. Ich erzählte ihr von all dem, was sie nicht selbst hatte sehen können. Von den südlichen Inseln, auf die es mich selbst erst einmal verschlagen hatte, deren atemberaubende Strände mich allerdings sprachlos gelassen hatten und von den Städten im Norden, die von kalter Schönheit waren. Sie hing an meinen Lippen, war begierig darauf alles zu erfahren, was ich zu erzählen hatte.

Und dann erzählte sie mir von ihren Büchern. Erzählte mir von den Geschichten, in die sie sich flüchtetet, wenn sie allein war. Und erzählte von den Orten, an denen Aaliyah gewesen war und ich begann zu verstehen wie sehr es sie gebrochen hatte, zurückzubleiben, während ihre Freunde in ide Welt hinaus gezogen waren. Verstand, dass sie sich in fremde Geschichten geflohen hatte, während sie wochenlang allein in diesem Palast festgesteckt und auf die Rückkehr ihrer Seelengefährtin gewartet hatte. Und ich hoffte wirklich, dass wir eine bessere Welt für die schaffen könnte. Damit sie nach alldem endlich sie selbst sein konnte und mit Aaliyah zusammen die Welt sehen konnte.

Erst am späten Abend ging ich zurück in mein Zimmer. Ich fühlte mich endlich leichter. Es würde noch dauern, bis Nessaja und ich wieder das gleiche Vertrauen hatte wie vor fünf Jahren. Aber das stundenlange Reden hatte dafür gesorgt, dass wir uns annäherten. Und zum ersten Mal war da etwas wie Hoffnung. Dass vielleicht doch alles wieder gut werden würde. Dass Arden und ich es vielleicht genauso schaffen würden wie Nessaja und Aaliyah. Dass wir vielleicht trotz aller Widrigkeiten zusammenfinden würden.

Als ich mich an diesem Abend in Ardens Zimmer schleichen wollte, erkannte ich seine große Gestalt, die vor dem Fenster stand und in die vom Mond erleuchtete Nacht schaute. Ich hielt in meiner Bewegung inne. Einen Herzschlag. Dann zwei. Gerade als ich umdrehen und wieder zurück in mein Zimmer schleichen wollte, nicht sicher, ob Arden meine Anwesenheit mitbekommen hatte, durchbrach dieser die Stille.

"Wir müssen noch über etwas reden, Ruelle", sagte er, ohne sich umzudrehen. Ich erstarrte. Wappnete mich innerlich für das, was kommen könnte.

"Deine Schatten", fügte er hinzu und mein Herz setze einen Schlag aus.

Ich hatte dieses Gespräch verdrängt. Hatte es in die hinterste Ecke meines Verstandes geschoben. Wusste nicht, wieso ich diese Angst hatte mit der Existenz meiner Schatten konfrontiert zu werden. Vielleicht, weil ich sie zu lang geheimgehalten hatte. Weil ich sie so wenig genährt hatte, dass ich manchmal Angst hatte, dass sie irgendwann einfach verschwanden, während ich mir des Risikos bewusst war, dass es bedeutete offen mit ihnen umzugehen. Mächtige Frauen wurden in einigen Landesteilen verfolgt. Vor allem solche wie ich, die nicht zu den Adligen gehörten. Als Ardens Seelengefährtin musste ich mir zwar darum keine Gedanken mehr machen, aber ich hatte zu viele Jahre damit verbracht zu lernen, wie ich sie versteckte. Wie ich sie so einsetze, dass niemand etwas davon mitbekam. Es fühlte sich widernatürlich an so offen darüber zu reden. Zuzugeben, dass ich Schatten besaß, die denen von Arden so ähnlich waren und die mich all die Jahre selbst für die Rebellen zur Bedrohung gemacht hätten. Meine Eltern hatten gewollt, dass ich sie versteckte. Vielleicht auf Anweisung von Arden. Damit niemand erfuhr, woher diese Kräfte kamen und niemand die Verbindung zwischen ihrem König und mir ziehen konnte.

"Ich möchte dir anbieten sie zu trainieren", fuhr er fort, nachdem ich zu verloren in meinen Gedanken war, um zu antworten. Erst jetzt drehte er sich zu mir um.

"Ich brauche kein Training", sagte ich ausweichend.

"Zeig sie mir", forderte er mich auf und trat einige Schritte auf mich zu.

"Was?", fragte ich überfordert und trat einen Schritt zurück.

"Deine Schatten. Zeig mir, dass du kein Training brauchst und ich lass dich in Ruhe. Zeig mir, dass du das volle Ausmaß deiner Schatten kontrollieren kannst. Dass du all die Möglichkeiten kennst."

Ich schluckte.

Arden schaute mich noch immer abwartend an.

"Ich kann nicht", brachte ich hervor. Verschluckte mich an den Worten, obwohl sie kaum mehr als ein Flüstern waren. Ich konnte es nicht, weil ich das volle Ausmaß nicht kannte. Weil ich nie wirklich einen Lehrer gehabt hatte. Weil ich keine Ahnung hatte, was möglich war. Und Arden wusste es.

"Dann wird dein Training morgen beginnen", sagte Arden nur ruhig. Ein ungutes Gefühl breitete sich in meiner Magengend aus. Meine Schatten trainieren. Es fühlte sich falsch an. Irgendetwas in mir sträubte sich dagegen, auch wenn ich es nicht benennen konnte.

"Deine Schatten sind ein Teil von dir und du musst sie im Kampf einsetzen können."

"Ich kann mich mit meinen Schatten verteidigen", widersprach ich.

"Aber du hast keine Vorstellung davon, was alles möglich ist", setzte Arden dagegen.

"Ich weiß, dass du dich auch so gut verteidigen kannst. Dass du nicht hilflos bist und deine Schatten auch im Kampf einsetzt. Aber meine Familie hat mehrere Jahrhunderte lang Erfahrung mit diesen Kräften, du könntest so viel mehr damit tun als sie zu verstecken, wenn du mir erlaubst es dir zu zeigen", fuhr er fort.

Ich nickte nur, auch wenn das ungute Gefühgl nicht verschwand. Ich hatte sie zu lang versteckt. Bis zu dem Punkt, dass es mir unnatürlich vorkam, sie anders einzusetzen.

"Was, wenn es zu spät ist? Was, wenn sich meine Schatten nicht mehr formen lassen?", wandte ich ein.

"Das werden wir Morgen herausfinden, Ruelle."

Ich biss mir auf die Unterlippe. Ich war mir nicht sicher, ob ich das wollte. Meine Schatten hatten immer nur mir gehört. Sie im Verborgenen einzusetzen, fühlte sich so natürlich an wie zu atmen, aber sie ihm zu zeigen, sie aller Welt zu zeigen, verursachte Panik in mir.

"Lass uns ins Bett gehen", sagte Arden. Ich blieb unschlüssig stehen, während Arden sich die Tunika über den Kopf zog und sich auf den Rand des Bettes setzte.

"Wir werden morgen direkt nach dem Frühstück mit dem Training beginnen."

"Nur wir beide", fügte er noch hinzu als hätte er meine Gedanken gelesen.

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Frohe Weihnachten euch, wenn ihr feiert. 🫶✨

Finds irgendwie schön, dass Ruelle und Nessaja zusammenfinden.

Und Arden und Ruelle werden demnächst trainieren. :)

Fated GamesWhere stories live. Discover now