3. Bonbon

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Ich stand an diesem kleinen Fluss, der sich zwischen den Trümmern der Welt hindurch wand und dachte über mein verkorkstes Leben nach.

Vor sieben Monaten war die Welt untergegangen und ich war ganz zufällig – als hätte es das Universum so gewollt – unter den letzten Überlebenden, zumindest wusste ich nicht davon, dass außer uns dreien noch andere überlebt hätten. Das wäre ein Wunder.

Vor sieben Monaten also hatte ich Adam aus meiner Klasse besucht um mit ihm gemeinsam ein Englischreferat vorzubereiten. Das hatte ich ihm angeboten weil er miserable Noten hatte und... Wen interessierte das eigentlich noch? Wir waren die letzten, Adam, seine jüngere Schwester Laura und ich, Evelyn.

Adams Eltern waren Astrologen und hatten genau jenes Ereignis erwartet. Ich war einfach davon ausgegangen, den nächsten Tag wieder zur Schule zu gehen, aber nachdem die erste die Tasse aus mir unerfindlichen Gründen aus dem Küchenschrank der Familie Kiet gefallen war, wurde Adams Mutter völlig verrückt. Sie packte jede Menge Vorrat in riesige Plastiktüten und hielt uns dazu an, ebenfalls mit anzupacken. Schon nach knapp zehn Minuten bildeten sich Risse im Boden und Frau Kiet warf wahllos Dinge in die Tüten. Sie schrie und weinte, mit zitternden Fingern fischte sie einen Schlüsselbund mit ganzen zwölf Schlüsseln aus einem kleinen Schränkchen und schob uns hastig zu einer Tür, die mir sehr nach Brandschutztür aussah. Sie wies ihren Sohn an, mit sechs der Schlüssel von innen abzuschließen, während sie von außen abschloss. Auch in mir war schon längst Panik hochgekommen, doch vor allem diese Schlüssel-Sache gefiel mir nicht. Weitere Minuten vergingen, Adam, Laura und ich sahen nun die Tür von innen und Adam verschloss diese. Unsicher sahen wir uns an. Eine Treppe führte hinab und das Ende ließ sich nicht erkennen, trotz heller Beleuchtung. Stufe für Stufe schoben wir uns nach unten, um uns herum hörten wir Geräusche, aber nicht laut genug, um erkennen zu können, um was es sich handelte.

Es dauerte sehr lange, bis wir ganz unten ankamen, doch als es geschafft war, tat sich eine riesige Fläche voll mit Essen in Dosen, Wasser und Decken vor uns auf. Ich konnte es kaum fassen. Selbstverständlich hatte ich in den Nachrichten vom „Weltuntergang" gehört und in der Schule hatte ich mich mit meinen Freundinnen darüber unterhalten, aber niemals in meinem ganzen Leben hätte ich erwartet, dass etwas derartiges sich tatsächlich ereignen könnte. Die Kiet-Eltern allerdings hatten damit gerechnet, und das nicht zu knapp. Es war nicht einfach nur eine Fläche, die ich vor mir sah, nein, es war eine Halle, in der an den Wänden Regale standen und circa im Abstand von immer einem Meter ebenfalls Unsummen von Regalen mit Lebensmitteln, Medikamenten und derlei Dingen.

Nach ungefähr eineinhalb Stunden hörten die Geräusche um uns herum auf. Wir warteten noch eine weitere Stunde ab, bis wir uns daran machten, die unendlichen Stufen nochmals zu erklimmen. Laura jammerte und weinte, doch ich hatte kein Verständnis dafür. Ich kümmerte mich in diesem Augenblick nur um mich, um meine Ängste, meine Sorgen, meine Familie, meine beiden Brüder, meine Freunde, meinen Hund, meine Cousins, Cousinen, Tanten und Onkel. Ich war so unglaublich neidisch auf Adam und Laura, dass sie wenigstens noch sich hatten. Ich klammerte mich nur noch an die winzige Hoffnung, dass es vielleicht doch nur eine Art Erdbeben zur falschen Zeit – der offizielle Weltuntergang war für die folgende Woche erwartet worden – und im falschen Land gewesen sein musste.

Adam schloss die Brandschutztür auf, wobei ich in diesem Moment einfach nur zitterte und keinen einzigen Gedanken daran verschwendete, wie das denn gehen konnte, wenn seine Mutter doch vor zwei Stunden von außen abgeschlossen hatte. Was sich mir bot war der grauenhafteste Anblick, der erschütterndste Erlebnis, das Schrecklichste, das ich in meinem gesamten bisherigen Leben sehen musste. Ich sah Scherben, Trümmer, aber vor allem sah ich Blut. Blut überall, das Blut von Adams Mutter. Ich musste mich sofort übergeben. Der Geruch war derart penetrant, es roch metallisch, und ich erbrach mich noch einmal. Tränenüberströmt sah ich Adam, der kreidebleich versuchte, seine Schwester zu beruhigen. Ich setzte mich zu ihnen und streichelte ihr langsam über den Rücken. Adam sah mich flehend an und ich verstand, dass er ein paar Minuten für sich brauchen würde. Ich rutschte noch ein Stück an Laura heran, die sich sofort wie eine Katze an mich kuschelte und weiter weinte. Bedächtig streichelte ich sie und versuchte gleichzeitig, meinen eigenen Tränenfluss zu unterdrücken. Mir schwante Böses, schließlich würde ich auch mein Haus aufsuchen, koste es, was es wolle. Ich blickte mich um und entdeckte eine kleine Uhr, deren Glas zersprungen war, aber noch zu funktionieren schien. Ich versuchte, an sie heran zu kommen, möglichst ohne Laura zu wecken, die vor Erschöpfung eingeschlafen war.

Ich erschrak, als mir von hinten eine Hand auf die Schulter gelegt wurde. „Adam", flüsterte ich erleichtert, meine Mimik änderte sich aber sofort in besorgt, als ich seine roten, verquollenen Augen sah. Trotz der überhaupt nicht amüsanten Situation musste ich innerlich ein winziges bisschen lächeln. Gerade so viel wie der Punkt auf dem i. Adam war immer der Coole, aber auch der Kumpelhafte gewesen, und eigentlich konnte ich mich glücklich schätzen, wenigstens noch ihn zu haben.

Irgendwann rappelte ich mich auf und atmete tief durch, bevor ich begann, über Steinbrocken und Scherben zu klettern. Ich hörte, wie Adam und Laura mir folgten und blieb kurz stehen. Wir sahen uns um, schließlich mussten wir uns erst einmal orientieren, bis wir uns für eine Richtung entschieden und hofften, dass diese die richtige zu meinem Haus sei. Wir liefen ungefähr zwanzig Minuten und tatsächlich – ich erkannte mein Haus, beziehungsweise das, was davon übrig geblieben war. Ungeschickt und mit wackeligen Knien stieg ich auch hier wieder über die Trümmer und suchte nach meiner Mutter. Oder irgendjemandem.

Tränen rannen mir über die Wangen, als ich mich daran zurückerinnerte.

Von hinten umarmte mich Adam und ich legte meine Hand auf seine. Wir drei waren so viel stärker und abgehärteter geworden, als wir es noch vor ein paar Monaten waren. Meine Eltern hatte ich nie gefunden. Dafür aber meine Brüder, wir hatten sie aus dem Schutt gezogen und beerdigt. So hatten wir es mit allen gemacht, die wir gefunden hatten. Wir konnten es einfach nicht übers Herz bringen, sie in ein Massengrab zu bringen, oder gar einfach liegen zu lassen. Es war ein ganzes Stück Arbeit und es würde auch noch sehr viel Arbeit sein, aber es lohnte sich. Für die Menschen.

„Weißt du, was Laura vorhin zu mir gesagt hat?", fragte Adam mich. „Sie hat gesagt, dass sie es eigenartig fände, dass ich Adam heiße und du Evelyn. Dass das wie Adam und Eva ist. Ist dir das jemals aufgefallen?"

„Nein", antwortete ich, während ich mich umdrehte, „nein, aber was für eine Ironie", und küsste ihn.




Ja, ich weiß, das ist unrealistisch und die Gefühle werden auch vernachlässigt. Aber ich hatte den Satz "Was würdest du tun, wenn du nur mit einer einzigen Person auf der Welt wärst?" bzw. dieses "Selbst wenn ich nur noch mit dir auf der Welt wäre, fortpflanzen würde ich mich mit DIR trotzdem nicht."
Also wenn ihr versteht, wie ich das meine.

Gerade schreibe ich an einer weiteren Kurzgeschichte, die kommt dann voraussichtlich nächsten Sonntag ;)

Himbeerbonbons lügen nichtTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon