8. Bonbon

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Das kleine Fräulein Clarabella

Das kleine Fräulein Clarabella war klug und hübsch. Aber auch ein bisschen dreist. Dreist und hochnäsig. Clarabella dachte mehr von sich, als sie tatsächlich war. Sie trug die schönsten Kleider, Kleider die ihr Vater von seinem letzten Geld kaufte. Sie warf Blicke um sich, ganz reizende Blicke und schuf Zwietracht zwischen ihren Verehrern. Das kleine Fräulein Clarabella war eine Dame, die sich keinen Fehltritt erlaubte. Nicht einmal in den Bäckerladen um die Ecke ging sie, ohne sich das Haar fein gebürstet zu haben und auch der Rock musste immer glatt gestrichen sein. Wenn die kleine Clarabella nachmittags den Park besuchte, nahm sie ihre Hündin an die Leine, um beschäftigt zu wirken und nicht angesprochen zu werden, denn die kleine Clarabella war sich sehr unsicher, sie wusste nicht was sie tun sollte, wenn sie angesprochen wurde, ja, nicht einmal, dass sie kein schlechtes Gewissen haben musste, wenn sie einfach an dem Zeitungsjungen vorbei ging, anstatt eine Ausgabe zu kaufen.

Clarabella war sehr behütet aufgewachsen, fast schon verhätschelt, ihre Elten wollten nur das Beste, das Beste, das sie sich leisten konnten, für ihr anspruchsvolles Kind. Ihre Mutter kochte immer nach Clarabellas Wünschen, ihr Vater kaufte ihr Kleider und Spiele. Ja, das kleine Fräulein Clarabella, sie besuchte ihre Tanten, manche mehr, manche weniger gerne, aber sie hütete sich davor, auch nur ein falsches Wort zu verlieren, denn ihr loses Mundwerk hatte sie sich mit Mühe und Not abgewöhnt. Nun machte sie nur noch spitze Bemerkungen, die von ihren dummen Tanten nicht immer richtig interpretiert wurden. Sie sagte Dinge wie: "Ach, so ein Vorgarten bedarf massiver Pflege", und bekam daraufhin ein eifriges "Ja, ja, meine Liebe!", wobei sie doch meinte, der Vorgarten sollte dringend einmal frisch bepflanzt werden.

Der Vorgarten von Clarabellas Nachbarn war immer wunderhübsch. Noch hübscher war er allerdings, wenn ihr Nachbarsjunge darin die Gartenarbeit verrichtete. Sie warf gern heimliche Blicke hinter dem großen Kirschbaum hervor und noch lieber sah sie ihn einfach nur an, wenn er konzentriert an etwas arbeitete. Sie sah generell gerne hübsche Menschen an. Die Tochter vom Süßwarenverkäufer, die war auch eine hübsche Person und die sah sie gerne an. Clarabella fand auch Tiere wunderschön. Pferde, Pferde waren ihr am liebsten anzusehen, abgesehen von ihrer Hündin natürlich. Manchmal stand die kleine Clarabella nur am Zaun und beobachtete die Anmut, die die Tiere ausstrahlen.

Manchmal betrachtete die kleine Clarabella sich auch gern selbst. Sie legte sich auf ihr Bett, streckte ihre schlanke Hand aus, betrachtete die langen Finger, die ovalen Fingernägel, die kleinen Narben am rechten Handgelenk, die noch aus der Zeit stammten, als sie naiv und unbeherrscht war. Einmal ist das kleine Fräulein Clarabella ausgerutscht und hat sich an der Rinde des Kirschbaums geschürft. Daher kamen die vielen kleinen Narben. Die große etwas weiter unten rührte von ihrer Hündin, als diese noch frech und ungezähmt war.

Kaum jemand kannte die kleine Clarabella wie sie wirklich war. Selbst eines ihrer vielen Gesichter zu kennen wäre nur ein Ansatz, denn dieses eine Gesicht hatte ebenfalls mehrere Facetten.

Das kleine Fräulein schwamm gerne in dem Teich herum, den nur sie kannte, verborgen von dichten Bäumen, Unterholz und einer Felsmauer, von der viele glaubten, sie sei verhext. Nur sie hatte sich näher dort hin gewagt und den Teich entdeckt. Hier konnte sie sich befreien, konnte einen runden Rücken machen und ihre engen Kleider ablegen. Der Teich kannte viele ihrer Geheimnisse, doch auch ihm blieb einiges verwehrt.

Das kleine Fräulein Clarabella schwamm sehr lange Zeit, so lange, dass es ihrer Hündin langweilig wurde, und sie nach Hause lief. Zuhaus waren die Eltern schon ganz aufgebracht, wo war ihr Mädchen geblieben, wo war ihre kleine Clarabella?

Eine Woche später verstand endlich der Vater, dass er der Hündin folgen musste, sie führte ihn zu seiner Clarabella, er überwand alle Ängste vor der Felswand und fand sie, dort treibend in dem Teich voller Geheimnisse, Geheimnisse des kleinen Fräuleins Clarabella.

Himbeerbonbons lügen nichtWhere stories live. Discover now