5. Bonbon

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Mondscheingrüße

„Du willst ein Vampir werden?"

„Ja. Aber ich will keine Menschen töten."

„Das eine schließt aber das andere aus. Entweder oder. Das kannst du machen wie ein Dachdecker. Es gibt tausende Umschreibungsmöglichkeiten. Einen Tod musst du sterben." Dan grinste.

Damit hatte eigentlich so ziemlich alles angefangen. Naja, ein bisschen was war auch beendet worden, aber nachdem ich noch ungefähr zehn Tage (was sich angefühlt hatte wie zehn Jahre) darüber nachgedacht hatte, ob ich wirklich ein Vampir mit gruseligen Zähnen und Abneigung zu Knoblauch werden wollte, hatte ich mich letztendlich dafür entschieden. Wie Dan schon sagte, einen Tod muss man sterben und ich habe den durch einen qualvollen Vampirbiss gewählt. Wobei ich dazu sagen muss, ich wurde aufgrund der Höllenschmerzen bewusstlos und habe gerademal zwanzig Minuten durchgehalten. Dan gab ständig damit an, dass er von einem unglaublich mächtigen Vampir gebissen wurde und somit die Schmerzen deutlich höher gewesen sein mussten. Und angeblich hat er es fast eine ganze Stunde ausgehalten, bevor auch er ohnmächtig geworden war.

Genau einhundert Tage später bin ich aus dem, wie er liebevoll von der Allgemeinheit der Vampire genannt wird, Schneewittchenschlaf aufgewacht und konnte mich – dem Himmel sei Dank – nur noch an Dan erinnern, als er sich mit diesem irren Blick in den Augen über mich beugte und dann nach meinem Handgelenk griff. Ich hatte zwar erwartet, dass er mich in den Hals beißen würde, aber gut, er war schließlich schon fünfzig Jahre länger ein Blutsauger als ich es war.

Dan war der durchschnittlich attraktive Typ, der vor zwei Jahren in die Wohnung neben uns eingezogen ist. Er ist mir nicht besonders aufgefallen, trug in der Regel eine gewöhnliche schwarze Lederjacke und fuhr Aufzug, wie es für den sechsten Stock, in dem wir lebten, üblich war. Er hörte ab und zu etwas zu laut Musik und durch die dünnen Wände ließ sich auch mal ein Grölen vernehmen, wenn er mal wieder diesen eigenartigen europäischen Sport im Fernsehen ansah. Ich fand Football ja schon zum Gähnen langweilig, aber Fußball – das eigenartige europäische – stach nochmal alles aus. Das war allerdings auch das einzige sonderbare, das mir an ihm aufgefallen war. Bis er eines Tages mit in meinen Aufzug stieg und sagte, er heiße Dan und würde von nun an neben unserer Wohnung wohnen. Da war er aber schon fast zwei Monate unser Nachbar. Ich hatte mir nichts weiter dabei gedacht, höflich geantwortet, dass es mich freue und dass ich ihm im Haus vielleicht mal etwas zeigen könne. Er antwortete, dass er sicherlich auf das Angebot zurückkäme, als sich der Aufzug auch schon öffnete.

Tatsächlich war er eine Woche später auf mein Angebot eingegangen. Meine Mom war abends mit ihrem neuen Freund fein essen und ich hatte es mir auf der Couch mit jeder Menge Sonnenblumenkernen – die aß ich wie andere Leute ihre Chips – und der neuen Staffel Pretty Little Liars bequem gemacht. Gegen zehn Uhr klopfte es und irgendwie mochte ich das Gefühl nicht. Nach vier Folgen von der Serie kann man schon etwas paranoid werden. Ich stand also auf, drückte auf alle Lichtschalter, die gerade in Reichweite waren und lugte durch den Spion. Dan stand davor und winkte hinein. Ich machte die Kette ab und öffnete.

„Du solltest dir echt nicht solches krankes Zeug reinziehen", war, womit er mich begrüßte. Ich zog perplex beide Augenbrauen hoch, aber da stand Daniel – ich ging einfach davon aus, dass er so hieß, schließlich ist bei der Abkürzung „Dan" nicht allzu viel Spielraum – auch schon in der Wohnung. Er ließ kurz seinen Blick umherschweifen und sagte dann irgendwie ironisch: „Staubwischen wird überbewertet." Bis ungefähr eine Stunde nach meinem Schneewittchenschlaf hab ich das nie ganz kapiert, was er damit meinte, aber jetzt erkannte ich sein Problem: Man sah einfach alles. Jedes Staubkorn, jedes Hundehaar, sogar ob ein Shirt gut gefärbt ist, weil sonst solche Flecken entstehen.

Himbeerbonbons lügen nichtWhere stories live. Discover now