6. Bonbon

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Killer - ein Katzenkrimi

„Killer!", trällert mein Personal mit langgezogenem „i" als sie gut gelaunt die Tür aufschließt. An der rechten Hand hängt eine braune Papiertüte, in der sich hoffentlich mein Essen befindet. Ich stehe von meinem gewohnten Platz auf, von dem ich sehr viel der unteren Wohnetage überblicken kann und strecke meinen Rücken durch. Ah, tut das gut! Ich fahre meine Krallen aus und häkele ein wenig auf meinem Sitzpolster, solange, bis ich bemerke, dass mein Personal - sie heißt Elisabeth - nicht in Erwägung zieht, mich zu streicheln, sondern direkt in die kleine Küche marschiert und Dinge aus der Papiertüte hervorholt. Erwartungsvoll sehe ich sie an.
„Na Killer, hast du Hunger?", Killer, wie ich diesen Namen verabscheue! Ich hatte mal mitbekommen, dass die Familie ursprünglich dachte, ich sei ein Kater und den Namen, nachdem sie die Wahrheit herausgefunden hatten, nicht mehr abänderten. Naja, immerhin hat sie meinen Blick bemerkt.
Nachdem ich meine Mahlzeit verzehrt habe, springe ich auf einen Stuhl, der sich direkt neben dem befindet, auf dem Elisabeth - ganz im Gegensatz zu ihrer vorherigen Stimmung - zusammengesunken sitzt. Sie hat den Kopf in die Hände gestützt und sieht ganz und gar nicht fröhlich aus. Ich maunze. Mein Personal hebt den Kopf und sieht mich mit roten Augen an: „Unsere Nachbarin wurde gefunden!", sie heult auf. Ach Gottchen, das bedarf einer Aufheiterung. Ich stehe auf und hopse einen Stuhl weiter auf ihren Schoß. Elisabeth beginnt damit, mich zu kraulen und ich reibe meinen Kopf an ihren Hals. Ein winziges Lächeln stiehlt sich auf ihre Lippen, als meine Schnurrhaare ihre Nase kitzeln.
Irgendwann beruhigt sich Elisabeth, kocht sich einen Tee und setzt sich mit verschnupfter Nase auf das Sofa. Sie beginnt zu erzählen, was sie weiß und ich höre aufmerksam zu: „Anja von drüben hat angerufen"- sie putzt sich die Nase -„und hat erzählt, dass Birthe gefunden wurde! Tot! Unsere Birthe! Ich hab' ihr immer gesagt, sie soll nicht allein mit dem Hund durch den Wald laufen, aber gehört hat sie nicht! Der Hund ist doch vor ein paar Tagen allein zurück gekommen, vom Gassi gehen. Unsere Birthe...". Elisabeth schnäuzt sich ein weiteres Mal und fährt sich mit der Hand verzweifelt über die Wange. Ich rücke ein Stück näher, um sie zu trösten. Irgendwas muss ich ja machen und ich bedaure sehr, mich nicht mit ihr verständigen zu können, wie die Menschen das machen.
„Ihr Mann, der Frank, der hat sie doch nach einem Tag als vermisst gemeldet, als nur der Hund zurück gekommen ist. Und dann hat er sie gefunden! Der Frank hat die Birthe gefunden, ist das nicht schrecklich?", Elisabeth bricht in einen Heulkrampf aus, ihr ganzer Körper bebt, ihre Augen schwellen wieder an. Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Wieder rücke ich noch näher an sie heran, bald bekomme ich keine Luft mehr...
„Und dann... Ja, dann hat er die Polizei gerufen, der Frank...", Elisabeth holt tief Luft. „Die konnten noch kein Mordmotiv feststellen, sagt die Anja. Ein paar Spuren haben sie gefunden und zwei Leute befragt, aber was Richtiges ist noch nicht rumgekommen... Und ich bin doch immer so müde, aber jetzt kann ich wieder die ganze Nacht nicht schlafen. Du bleibst doch bei mir, nicht wahr Killer?" Ja, ganz sicherlich. Sobald sie eingeschlafen ist, werde ich mich auf Spurensuche begeben...

Vorsichtig durchdringe ich das letzte Stück Gestrüpp, achte sorgfältig darauf, mich nicht in den Stacheln zu verhaken. Ich kann Blut riechen und es lässt mich fast einen Fellball hinauf würgen. Der Anblick der sich mir bietet ist abartig. Kurz zucke ich zurück, stäube mein Fell und fauche auf. Neben mir raschelt das Geäst und ich nehme den Geruch von Thaler wahr, einem etwas ältlichen Kater, dessen Besitzer bei der Polizei arbeitet. Das kommt mir gerade recht!
„Schau dir nur dieses Elend an!", begrüßt er mich mürrisch, „und du neugieriges Gesindel bist natürlich in der ersten Reihe dabei um dir das anzusehen."
Spitzbübisch antworte ich: „Natürlich, irgendwer muss ja schließlich dafür sorgen, dass dieser Fall aufgeklärt wird. Hilfst du mir?"
Thaler schnaubt, aber ich sehe die schelmische Vorfreude in seinen Augen.
„Na dann", schnurre ich, „lass uns anfangen."
Ich versuche, mich voll auf meine Sinne zu konzentrieren. Es ist Nacht und ich sehe nicht mehr so gut, wie noch vor ein paar Stunden. Hinzu kommt das Dickicht, durch das nur wenig Mondlicht dringt. Wenigstens ist die Nacht klar. Ich höre ein Eichhörnchen, rieche es einen Moment später und muss ich dazu zwingen, nicht auf Jagd zu gehen.
„Killer", höre ich Thaler raunen, „ich hab' hier was, riecht wie Mensch." Ich beeile mich, zu ihm zu gelangen und schnuppere. Ich weiß was er meint. Menschen haben ihren besonderen Geruch, nicht nur jede Person einzeln sondern auch im Allgemeinen. Sie riechen nach ihren Klamotten, Autoabgasen, Parfums und Cremes. Zu viele Gerüche, wenn man nicht daran gewöhnt ist. Trotz des wenigen Lichts, das ich habe kann ich ein Haarbüschel erkennen. Mich wundert, dass die Polizei es noch nicht gefunden hat, vielleicht haben sie einfach nicht intensiv genug gesucht. Das Büschel riecht anders als das Blut, das hier überall verteilt ist. Gleich, aber irgendwie anders. Nochmals schnuppere ich daran. Die Tote ist eine Frau... Das Büschel stammt auch von einer Frau, aber nicht von der gleichen. Die Haare sind hell, soweit ich das erkennen kann haben sie die Farbe von Weizen.
„Schau mal", beginnt Thaler, „die Haare sind total zerrissen und abgebrochen... Deutet auf einen Kampf hin... Denkst du das ist die Mörderin?" Anscheinend hatte auch er anhand des Geruchs das Geschlecht erkannt. Ich blicke ratlos aus der Wäsche: „Kein sein, festlegen möchte ich mich nicht. Denkst du, wir können hier auch das Alter herausfinden? Von der Person, die ihre Haare hier gelassen hat?"
„Glaub' ich nicht. Die Haare von einem Kind können genauso lang sein, wie die eines Erwachsenen. Und genauso struppig." Thaler rümpft die Nase.
Ich sauge den Geruch nochmals ein, wie ich es bei Mäusen mache, bevor ich sie töte, dann wende ich mich ab. Das Bild ist noch immer grauenhaft, dort wo die Leiche lag ist eine etwas eingedrückte Stelle im Laub hinterließ. Jetzt liegt Birthe wahrscheinlich irgendwo in einem Gebäude und Menschen begutachten die Leiche. Vorsichtig setze ich eine Pfote vor die andere, immer darauf bedacht, keine Abdrücke zu hinterlassen. Plötzlich fällt mir auf, dass das Blut schon angetrocknet ist, ich hatte nicht daran gedacht, dass Birthe schon mehrere Tage tot ist. Doch wie lange genau? Sicherlich wurde sie ermordet, genau an dem Tag, als der Hund zurück kam.
Ich sehe die ersten Sonnenstrahlen, die Nacht war erstaunlich kurz, oder zumindest kommt es mir so vor. Thaler gähnt ausgiebig und auch mich überfällt ganz plötzlich eine unbezwingbare Müdigkeit. Ich fühle mich, als wäre ich viele Kilometer gelaufen, doch eigentlich habe ich doch nur ein paar Nachforschungen angestellt...
„Wir sollten uns heute Nachmittag noch einmal hier treffen", schlage ich erschöpft vor.
Thaler brummt nur und ich trotte in die entgegengesetzte Richtung davon, nicht, ohne die Stelle des Geschehens noch einmal zu überblicken. Direkt vor mir das nieder gedrückte Laub, wo die Leiche lag, darum herum einzelne platte Stellen, wo wohl ein Kampf stattfand. Auf der anderen Seite das Haarbüschel und überall Blut, dieses viele Blut, das selbst mich, eine Jägerin, abschreckt. Die Polizei hat großflächig Absperrband aufgespannt und an jeder mehr oder minder besonderen Stelle ein Kärtchen positioniert, auf dem eine Zahl steht. Eines dieser Kärtchen, ich hatte vorher nicht sonderlich darauf geachtet, fällt mir aus irgendeinem Grund besonders ins Auge. Meine Müdigkeit ist wie fortgeweht und im leichten Sonnenschein erkenne ich, dass es ein abgerissener Knopf ist, halb verdeckt von einem Blatt. Es ist ein runder, schlammgrüner Knopf, wie von einer Armeejacke, wie sie der Sohn von Elisabeth trägt, wenn er für eine Woche zu Besuch kommt. Nichts Besonderes. Darauf ist ein „R&M" gestempelt. Die Marke, vermute ich. Ich schnuppere, kann einen leichten Duft erahnen, aber das Plastik nimmt Gerüche nicht gut auf und ich möchte nicht raten. Ich sehe mich weiter um, warum war ich nicht schon zuvor auf die Idee gekommen, die einzelnen Kärtchen zu inspizieren? Als nächstes liegt dort eine Stofffaser, wahrscheinlich gehört sie zur der Jacke von dem Knopf, aber auch davon kann ich keinen prägnanten Geruch herausfiltern. Einige Meter entfernt, die nächste Karte. Ein Zigarettenstummel und ich muss würgen. Warum tun sich die Menschen das an? Ich finde das widerlich. Das Teil ist schon matschig vom Regen der letzten Tage. Unbrauchbar.
Also dann, denke ich und gebe meine Suche nach weiteren Hinweisen auf. Es wird alles nur gleich riechen, und außerdem wollte ich schon vor einer halben Stunde hier weg.
Ich schleiche mich zurück zu den Gärten am Rand des Waldes, laufe an den Zäunen entlang, an einem Hasenstall vorb- Stopp! Ich gehe ein paar Schritte zurück und halte mein Näschen in die Luft. Meine Augen zucken nervös hin und her, das ist eindeutig der Geruch der Haare, die wir gefunden haben! Himmel!
Durch ein Loch im Zaun schlüpfe ich auf den gepflegten Rasen. Alles hier sieht ordentlich aus, Blumen in symmetrischer Anordnung, die Gartenmöbel sauber gestapelt, selbst die Blumenerde scheint frisch aufgehakt, damit es schön aussieht.
Ich schleiche an die Terrassentür heran, wobei das eigentlich nicht nötig wäre, sie liegen ja doch noch alle in ihren Betten. Wie könnte ich jetzt in das Haus gelangen? Kläglich beginne ich zu miauen, was ich äußerst ungern tue, mir fällt aber im Moment nichts Besseres ein. Nach ein paar verzweifelten Rufen sehe ich ein Licht im Haus angehen und mache unbeirrt weiter. Die Glastür öffnet sich und heraus treten zwei behaarte Beine. Noch mehr von dem mir mittlerweile bekannten Duft strömt in meine Nase. Das sieht doch ganz wunderbar aus.
„Ein Kätzchen, was machst 'n du hier?", werde ich angesprochen. Mit leidendem Blick sehe ich einem etwas faltigen Gesicht entgegen, die Haare auf dem Kopf lassen auch zu wünschen übrig. Der Mann nimmt mich hoch, was ich scheinheilig annehme, obwohl ich dem eher abgeneigt bin.
„Karin?", ruft der Typ, „Karin, guck mal hier! Ist das nicht die Katz' von der ollen Elsbeth?" Ich muss ein Fauchen unterdrücken. Dass er so über Elisabeth redet, ich fasse es nicht!
„Erich, was soll denn das am frühen Morgen?" Eine Frau kommt in das Zimmer, sie knotet gerade noch das Band von ihrem Morgenmantel zusammen, als sie aufsieht und mich entdeckt. „Ach wie goldig, ja natürlich ist das die Katze von der Elisabeth, na komm mal her du kleiner Ausreißer", sie nimmt mich auf den Arm und erstarre. Das ist sie! Das ist die Frau, deren Haar auf dem Boden lag. Mein Herz zieht sich zusammen, die Frau, Karin, kuschelt mich. Ich symbolisiere ihr, dass ich Angst habe, ziehe eine verschreckte Mine und fauche unruhig.
„Nimm du sie, ich suche die Telefonnummer von Elisabeth raus", weißt Karin Erich an und verschwindet wieder. Auch bei ihm fühle ich mich gänzlich unwohl, springe von seinem Arm und verstecke mich unter der Couch. Ich muss so tun, als wäre ich total verschreckt und dann in den Keller rennen, denke ich. Irgendetwas sagt mir, dass ich dort einen Schritt weiter komme, ich bin so nah an der Lösung dran, ich weiß es einfach.
„Mietz, mietz, mietz", macht der Mann und versucht mich unter dem Sofa hervor zu locken. Mit einer Pfote schlage ich nach ihm und Erich zieht sich mit genervtem Gesichtsausdruck zurück. „Der Sonntag fängt ja schon wieder gut an...", murmelt er, „und wir ham' grad mal halb sieben!"
Karin betritt wieder das Wohnzimmer, seufzt und sagt: „Die Elisabeth kommt in ein paar Minuten, sie will sich nur schnell etwas über ziehen. Solange sollen wir die Katze hinhalten." Sie fährt sich durch die Haare. Erich setzt sich auf einen Sessel und schaltet den Fernseher ein, glotzt auf eine junge Dame, die Hosen präsentiert während Karin den Raum abermals verlässt und ich hören kann, wie die Kaffeemaschine eingeschaltet wird. Das ist mein Moment! Ich flitze hinüber zur Treppe und springe mehrere Stufen gleichzeitig nehmend hinunter. Schnell husche ich nach links in den nächsten Raum hinein und verstecke mich hinter einer Waschmaschine.
„Karin, jetzt ist das Katzenviech in den Keller gerannt!", höre ich Erich.
„Mein Gott, dann geh' runter und hol es wieder hoch, nun stell dich doch nicht so an!"
Trampelnd kommt er hinunter und sucht mich, doch ich verkrieche mich so weit nach hinten wie es nur geht. Keinen Mucks machen!, erinnere ich mich selbst.
Der Mann findet mich nicht, irgendwann kommt Karin mit Elisabeth hinunter.
„Killer", lockt mein Personal, „Killer, na komm, meine süße!" Ich denk' nicht mal dran.
Nach reichlich locken und suchen geben die drei irgendwann auf. „Sobald sie wieder herauskommt, steckt sie in diese Kiste" - oh nein, Elisabeth hat die Katzenbox mitgebracht, mir bricht der Schweiß aus - „und ruft mich an. Sie hat heute noch kein Futter bekommen, deshalb kann es nicht so lange dauern."
Karin, Erich und Elisabeth verschwinden wieder nach oben, ich warte noch ein paar Minuten, bis ich mich aus meinem Versteck traue.
Wieder schnuppere ich und erfasse Blutgeruch, dem ich folge, bis in eine Garage. In einem Regal liegt etwas längliches, eingeschlagen in Zeitungspapier. Ich springe hoch und fahre meine Krallen aus. Hoffentlich macht es nicht so viel Lärm, dieses Paket auszupacken! Es vergehen unendliche Minuten, bis ich endlich ein Messer zum Vorschein bringe. Es ist lang und schmal, doch das Schlimmste - es ist voller Blut, Birthes Blut. Ich schrecke zurück und remple eine Kiste an, der Deckel verschiebt sich und ich luge hinein. Zeitungsartikel! Mit einer Pfote fahre ich hin, kralle mir einen der Texte und lese:

02. Dezember 1973

Wenn Blicke töten können
Letzten Dienstag ereignete sich in der Schillerebene-Straße ein tragischer Unfall. Dabei kamen zwei Menschen ums Leben. Wie der Polizeisprecher berichtete trug sich der Unfall wie folgt zu:
„Karin T. (27) fuhr gerade vom Einkaufen nach Hause, als sie ihren Ehemann Rudolf T. (29) an einer Straßenecke mit einer anderen Frau (Birthe M., 27) sah. Da sie derartig abgelenkt wurde und nicht weiter auf die Straße achtete, raste sie direkt gegen eine Hauswand, wo zu der Zeit ein weiteres Paar entlang lief. Der Notarzt erschien nach wenigen Minuten, doch beiden konnte nicht geholfen werden. Karin T. erlitt schwere Verletzungen, ist aber auf dem Wege der Besserung."
Gegen Karin T. werde wegen fahrlässiger Tötung und Verletzung der Straßenverkehrsordnung ermittelt.

Karin hatte Birthe umgebracht, weil ihr Mann sie vor Jahren mit ihr betrogen hatte.

Himbeerbonbons lügen nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt