10. Bonbon

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Stilles Gewusel durchzieht die Büroräume. Niemand achtet auf sie. Sie verrichtet ruhig ihre Arbeit, kennt genau die Bewegungsabläufe, was muss sie in die Hand nehmen, was muss sie anklicken?

Während ihre Kollegen um sie herum schwer beschäftigt sind, Akten einräumen, Akten bearbeiten, auf Akten starren oder einfach Kaffee trinken überlegt sie sich einen Plan, wie sie sich umbringen könnte. Nervös tippt sie auf ihren Oberschenkel. In jeder anderen Situation hätte sie den hässlichen beigen Kugelschreiber in unregelmäßigen, schnellen Abständen klicken lassen, aber ihre Devise hieß, nicht aufzufallen.

Penibel genau und doch mit zitternder Hand tippt sie die nötigen Daten in den uralten, staubbedeckten Rechner. Das macht jetzt auch nichts mehr aus. Der Staub könnte auch von ihrem Nachfolger entfernt werden.

Sie versucht angestrengt, sich zu konzentrieren, woran sie kläglich scheitert.

Ihr Blick wandert, schon wieder, zu dem Bild auf der linken Seite ihres Schreibtisches. Es ist genauso verstaubt wie der Computer. Eigentlich wie ihr ganzes Leben. Trist, langweilig, mit ihrer perfekten Familie, ihr Mann, ihre beiden Kinder, geschniegelt und gebügelt nur für dieses Foto, diese Momentaufnahme. Alle miteinander lächelten sie. Zwischen den dreien steht sie, wie ein Schandfleck, das schwarze Schaf, von dem bisher niemand etwas weiß.

Aber es steht in ihrem Abschiedsbrief, es ist okay. Es ist okay, okay, okay.

Niemand wird sie vermissen, nachdem sie den Brief gelesen haben. Sie ist ein Monster.

„...du?", sie schreckt auf. Diese Stimme. Sie sieht nach oben in diese Augen. Sofort huscht ihr Blick zu den Lippen. Und wieder zu den Augen.

Sie kann nicht genug bekommen von diesem Gesicht.

Darum muss sie sich umbringen.

„Was?"

„Es ist Feierabend. Kommst du mit?"

Sie spürt dieses Kribbeln. Kann kaum antworten. Kann kaum atmen. Nur kribbeln.

„Natürlich", hastig fährt sie den PC herunter, greift nach ihrer Tasche und dem Mantel.

„Ich kann dich nach Hause bringen, dann musst du nicht mit dem Zug fahren. Wegen deinem Auto... es ist doch noch in der Werkstatt, oder?"

Sie verkrampft sich. Ein letztes Mal könnte sie doch...

„Ja, ja es ist noch in der Werkstatt. Ich weiß auch nicht, was die da so lange machen."

„Na komm, dann steig ein. Es ist ja nur ein kurzer Umweg."

Sie atmet tief ein. Allen wird es so viel besser ergehen, wenn sie weg ist. Insgeheim hofft sie, dass überhaupt jemand zu ihrer Beerdigung erscheinen würde.

„He... hier ist siebzig!"

„Ach, um die Uhrzeit ist hier kein Mensch unterwegs. Und geblitzt wird auch nicht." Mehr sagt ihr Gegenüber nicht. Grinst nur. Ach, das Grinsen. Das wird sie vermissen.

Der Moderator im Radio kündigt „Mr. Sandman" von 'The Chordettes' an. Was ein schönes Lied. Vielleicht sollte sie das laufen lassen, wenn sie sich das Leben nimmt.

„Grundgütiger...", haucht sie.

Direkt vor ihnen springt ein Wildschwein auf die Straße.

Ihr Fahrer drückt die Bremse durch und reißt das Lenkrad nach links.

Alles was sie sieht, ist der riesige, furchteinflößende Kopf, bevor das Tier in seiner ganzen Masse die Windschutzscheibe eindrückt und mit voller Wucht auf ihrem Körper aufschlägt.

Sie hat keine Zeit mehr um zu schreien.

Himbeerbonbons lügen nichtWhere stories live. Discover now