9. Bonbon

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Achtung Spoilerwarnung! Bevor Du diese Kurzgeschichte ließt, solltest Du meine Geschichte "Blaubeerbonbons tanzen nicht" lesen, denn das hier ist ein Spin-off.







Blaubeerbonbons tanzen nicht – Kester Edition

11,5. Bonbon

Nervös raufe ich mir die Haare. Mensch, was soll denn das? Kann sie nicht einmal ganz normal antworten, anstatt sofort aufzulegen? Nein. Kann sie nicht. Verdammt! Aber ist es denn so schwer, einen Kompromiss finden zu wollen? Ich möchte nur etwas mit ihr... tun... Lachen, reden, meinetwegen fangen spielen und einfach diese Welt vergessen. Diese Welt, die sie mit ihrer Behinderung alleine lässt. Ja, es ist eine Behinderung. Zu sagen, es wäre ein Handicap wäre nur purer Euphemismus. Das denkt sie zwar nicht, aber ich denke es.

Ich rufe sie nochmal an. Natürlich geht nur der Anrufbeantworter dran, egal, wenn sie daneben steht, wovon ich ausgehe, dann kann sie es ja mithören.

„Sag mal bist du noch ganz richtig? Wenn du kein Schwimmen magst, musst du nicht gleich auflegen! Echt, das nervt. Ich möchte etwas mit dir unternehmen, rufe dich beinahe täglich an und dann sowas. Das wird mir echt zu dumm!"

Oh Shit. Ich glaube ich bin zu hart gewesen. Sie möchte zwar nicht wie ein Püppchen behandelt werden, aber niemand wird gern angeschrien. Ich schlage mit der Handkante kurz und kräftig gegen unseren Kühlschrank, gebe ein abgewürgt klingendes, klägliches „Uff!" von mir und lehne mich dann mit dem Rücken dagegen. Meinen Kopf lasse ich nach hinten fallen, schließe die Augen und atme hörbar aus. Morgen nach der Klausur gehe ich hin, zu ihr. Vielleicht hätte ich das schon viel früher machen sollen. Einfach vor ihrer Haustür auftauchen, stattdessen rufe ich sie täglich an, wie ein Hund, der nach seinem Besitzer hechelt und dabei nicht merkt, dass der Besitzer schon längst tot ist. Vielleicht will sie mich nicht sehen. Vielleicht sollte ich sie einfach in Ruhe lassen. Vielleicht bin ich nicht gut genug für sie, die so hohe Ansprüche hat, vielleicht kann ich dem einfach nicht gerecht werden. Aber das kann einfach nicht sein. Das kann nicht sein! Ich zische wie eine gereizte Katze.

Soll ich jetzt zu ihr hin? Oder doch lieber morgen? Nein. Jetzt. In der Klausur werde ich bestehen, so oder so, ich kann es mir leisten. Also gehe ich aus dem Haus, setze mich in den nächsten Bus zum Bahnhof und fahre die vertraute halbe Stunde mit dem Zug. Ich stehe vor ihrer Haustür, das Auto ihrer Eltern ist nicht da, schlechtes Zeichen, doch mein zitternder Finger ist nur Millimeter von der Klingel entfernt.

„Kester?", ich werde von einer rauen, kratzigen und doch vertrauten Stimme aus meiner Melancholie geholt. „Kester, mein Junge, komm rüber zu mir." Mathildas Nachbarin, bei der wir früher so oft Kirschkuchen mit Sahne gegessen haben, sie ruft mich. Ich mustere sie. Viele kleine Fältchen zieren ihr mittlerweile ausgemergeltes Gesicht. Sie ist sehr klein, im Gegensatz zu mir, mit meinen langen, schlaksigen Gliedmaßen. Trotzdem zieht sie mich zu ihr hinunter und umarmt mich. Ihre Hände zittern ein wenig, als sie etwas aus ihrer Schürze holt und eine winzige Träne kullert ihre Wange hinunter. Und dann gibt sie mir den Brief.

Himbeerbonbons lügen nichtWhere stories live. Discover now