Kapitel 21

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Ich blicke in seine trüben Augen. Die bleiche Haut gleicht den Schneeflocken, die ihren verwirrenden Tanz um uns herum aufführen. "Lucas", wispere ich mit zitternden Lippen und einer flachen, piespigen Stimme. Ich brauche einige Sekunden, um die rote Decke um seinen gebrechlichen Körper zu wickeln. Aber er ist so groß, dass seine Beine ab den Knien herausragen und die Decke ihm nicht die Wärme geben kann, die er jetzt dringend braucht.

Als ich nach dem Kaffeebecher greife, fühlt es sich wie ein Schlag in die Magengrube an. Heute gibt es wohl kein Abendbrot. "Lucas.", wiederhole ich mich und beuge mich über ihn.

"Birdie, es tut mir leid.", flüstert er. Die eiskalten Hände zeigen keine Kräfte mehr. Die Kälte hat es ihm entzogen. Seine Nieren werden versagen.

"Lucas. Warum hast du mich denn nicht geweckt? Du brauchst die Decke!", schimpfe ich mit heißen Tränen in den Augen und Schmerzen in der Brust. Der Anblick lässt mich erschaudern. Seine Schicht ist noch nicht vorbei. "Lucas. Ist alles in Ordnung?", frage ich ihn, will mich aber nur von dem Gedanken ablenken, dass ich mir die Frage auch selber beantworten kann.

"Birdie. Es tut mir so unfassbar leid.", seine Stimme bröckelt mit jedem Wort ein Stückchen mehr.

"Was? Was tut dir leid?" Die heißen, salzigen Tränen der Schwäche kullern über meine kalten Wangen und Lippen.

"Nicht weinen!", sagt er nur. "Bloß nicht weinen. Nicht jetzt. Nicht hier." Die Locken hat er von Mutter. Und auch die rehbraunen, großen Kulleraugen... Nicht er. Nicht jetzt. Nicht hier!

"Was ist los? Sind es deine Nieren? Ist das der Grund?" Meine hysterischen Fragen scheinen ihn nicht zu interessieren. "Möchtest du etwas essen? Ich schwöre dir, wenn es das ist, was dir Probleme macht, dann werde ich das erste Mal etwas für uns stehlen gehen!"

"Auf gar keinen Fall, ...Birdie!" Ich sehe doch, wie er mit jedem weiteren Wort zu kämpfen hat. Er kann mir nichts vormachen!

"Lucas. Sag mir, was tut dir leid?", frage ich zum letzten Mal mit einer halbwegs ruhigen Stimme und wir schauen uns in die Augen. "Bitte..."

Für einen Bruchteil einer Sekunde hebt er seinen Kopf. "Komm her.", sagt er. Ich tue, was er sagt und lege mich in die Kuhle, die er mit seinem rechten Arm bildet, aber als unsere Körper sich berühren, zeigt er keinerlei Reaktion. "Lass mich dich wärmen, solange ich es kann."

"Sag sowas nicht!" Ich meine es viel ernster, als ich es ihm gegenüber ausdrücke.

"Es tut mir leid, dass ich kein Geld für uns sammeln konnte. Ich wollte ja, aber nach nur wenigen Minuten, bevor ich überhaupt aufstehen konnte, spürte ich meine Beine nicht mehr... Das Gefühl ist komplett weg, als würden sie nicht mehr zu meinem Körper gehören." Er schluckt den inneren Feind herunter, der ihm das Sprechen schwer macht. "So habe ich mir das Erfrieren nicht vorgestellt..." Er soll aufhören! Lucas, hör auf!

"Du weißt ganz genau, dass wir es schon mehrmals geschafft haben, ohne Abendbrot die Nacht zu überstehen!" Ich sehe zu ihm auf, aber er schafft es nicht einmal mehr seinen Kopf in meine Richtung zu bewegen. "Du schaffst das! ...Wir schaffen das!"

"Ich bin mir sicher, du wirst es schaffen... Birdie. Wenigstens einer aus unserer Familie muss es doch schaffen. Gott ist nicht so rücksichtslos und würde uns alle gehen lassen, ohne wirklich gelebt zu haben. Du schaffst das." Ich vergrabe mein Gesicht in dem Rot der noch weichen Wärme. Solange ich seinen Herzschlag hören kann, werde ich ihn nicht loslassen...


Doch dann drehe ich mich um, sehe mich in dem blitzblanken Fenster des noblen Gebäudes. Meine Laterne steht rechts neben meinen Füßen und wirft einen Sternenhimmel auf den Asphalt. Die Obdachlosen-Spikes stechen mir in den Rücken, als ich mich versuche an die Hauswand zu lehnen. Der Boden ist kalt, als ich ihn mit meinen Fingern berühre.


... Denn meine Beine spüre ich nicht mehr.



Million Dollars Between Us (Damien & Birdie - Trilogie #1)Where stories live. Discover now