Kapitel 29

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  Ich bin genauso sprachlos wie Rosa, als wir Hamilton vor uns stehen sehen. Der Dreck an seinen Wangen sieht nach Erde aus. Erde verschmiert durch die bereits vertrockneten Tränen. Mein früheres Ich hätte nun gelacht. Einen weinenden Anzugträger bekommt man nicht häufig zu sehen. Ich hätte die Chance ergriffen, nur ein einziges Mal über jemandem wie ihn zu stehen. Nur ein einziges Mal, um zu sehen, wie es sich dort oben wohl anfühlen mag. Nur ein einziges Mal, um auch den letzten Beweis gesammelt zu haben, sodass ich mit Sicherheit weiß, dass dieses Leben nichts für mich ist und ich glücklich sein kann, dass ich kein Anzugträger bin. 

  Aber ich sitze stumm auf der Couch neben Rosa und vergesse beinahe das Atmen. Ich werde nicht lachen. Ich lache nicht. Das bin ich nicht. Und das weiß ich. Dafür brauche ich keinen blöden Beweis. Ich muss nicht wie er sein, um dies zu wissen. Ich weiß es einfach. 

"Mr. Hamilton, kann ich etwas für sie tun?" Rosa steht vom Sofa auf und ich bin erleichtert, dass sie den ersten Schritt macht. Er schüttelt mit dem Kopf und selbst in diesem Zustand kann er seinen Anzugträger-Blick aufsetzen. 

"Ich gebe Ihnen für heute frei.", brummt er mit einer tiefen, rauen Stimme. 

Rosa nimmt sich unsere Teller und Tassen, um sie abzuräumen. Ich will ihr helfen, aber ich werde aufgehalten. "Nein. Ist gut.", flüstert sie und mein Blick folgt ihren Schritten zur Küche, wo sie das Geschirr zum Abwasch stellt. Dann verlässt sie das Wohnzimmer und lässt mich mit Damien alleine zurück. Ich bin ihr nicht böse, aber nachdem, was ich ihr gerade erst erzählt habe, müsste sie wissen, dass ich große Probleme haben werde, mich in dieser Situation mit Damien auseinanderzusetzen. 

  Ich höre seine großen, jedoch unsicheren Schritte, bis er sich dort hinsetzt, wo wenige Sekunden vorher noch Rosa gesessen hat. Das Kissen habe ich noch in meinem Schoß und ich kralle mich daran fest, als könnte es mich in jedem Moment aus diesem Zimmer ziehen -- und dann möchte ich nicht aus Versehen nicht fest genug zugegriffen haben.

  Doch als seine Hand nach dem Kissen greift, rutscht der raue Stoff aus meinen Fingern, als wären meinen Anstrengungen nutzlos. Und das sind sie.

"Hör' zu...", haucht er. "Ich glaube, ich habe nicht so ganz die Wahrheit gesagt." Aufmerksam höre ich ihm zu. Aber die Anspannung in meinem Körper lässt mich nicht mehr los. "Es gibt einen guten Grund, dass ich wissen wollte, warum du den Wein getrunken hast... Es hat nichts mit dem Wert in Form von Geld zu tun." Er wischt sich mit der schmutzigen Hand über die geschwollenen Augen. 

"Nicht!" Ich nehme seine Hand. "Deine Augen entzünden sich sonst noch.", sage ich und halte mich an seinen Fingern fest. Wo bist du bloß gewesen...

"Der wahre Wert und die Hintergrundgeschichte spielen eine viel wichtigere Rolle." Mein Herz brennt vor Schmerz. Ich kann ihn so nicht sehen. Viel lieber würde ich ihn in einem von Rosa glatt gebügelten Hemd und in seinem grauen Jacket vor mir sitzen haben. Ohne all den Schmutz auf seiner Haut und Kleidung. "Der Wein. Er ist von meiner Schwester." 

"Deiner Schwester...", spreche ich ihm nach, während ich mir im Kopf mehrere mögliche Geschichten ausmale. 

"Kyra...", erzählt er mir und die Tränen rinnen aus seinen Augen. Das eisige Blau ist stärker als je zuvor, die Pupillen nur kleine Kreise, verloren in der Kälte. "Sie hat mir diesen Wein geschenkt. Den Wein, den sie zuletzt getrunken hatte, bevor sie-" 

"Stop! Hör' auf!", unterbreche ich ihn und er schaut mich erschrocken an. "Bitte nicht...", hauche ich und halte meine eigenen Tränen zurück. Stark. Bleib stark, Birdie!  "Es tut mir leid." Es tut mir leid, dass ich dich unterbrochen habe. Es tut mir leid, dass ich nicht stark genug bin, mir deine Geschichte anzuhören. Es tut mir leid, dass ich dir nicht helfen kann...und dass ich es nicht einmal schaffe, dies dir offen sagen zu können...

  Sein starrer Blick wandert zum Fenster. Der Himmel ist bewölkt."Bitte verlasse mich nicht." Ich muss schlucken. Er hat Angst, dass ich ihn verlasse, jetzt, wo ich den Wein getrunken habe. Genau wie seine Schwester es getan hat, egal ob freiwillig oder nicht. Ich weiß ganz genau, wo er gewesen ist. 

 Er hat Angst, dass ich ihn verlasse. Und in diesem Moment wird mir bewusst, dass wir von denselben dunklen Gedanken verfolgt werden. Auch ich habe Angst, dass ich morgen nicht mehr bin. Auch ich habe Angst, die Personen zu verlieren, die mir etwas bedeuten. Und da ich meine Familie bereits verloren habe, bleiben mir nur noch Damien und Rosa. Und ja, auch wenn ich es mir niemals hätte erdenken können, sie bedeuten mir verdammt viel. 

 Ich lehne mich vor und küsse sein stoppeliges Kinn, die einzige Stelle, die vom Schmutz und Schweiß verschont wurde. Aber selbst, wenn sie das nicht wäre, dann hätte ich ihn genau dort geküsst. 

"Bitte überzeuge mich davon, dass ich gebraucht werde...", flüstere ich mit einer unsicheren Stimme und ich spüre das Hämmern des Herzens in meinem Brustkorb. 

"Ich brauche dich." Das hat noch nie jemand zu mir gesagt. Bisher war immer ich diejenige, die auf die Hilfe anderer angewiesen war, und nun bin es tatsächlich ich, die gebraucht wird. Er braucht mich. Damien braucht mich. "Sehr sogar." Er lehnt sich vor und küsst meine Stirn. Meine Hände können seine Finger einfach nicht loslassen. 

Denn auch ich brauche ihn. Sogar sehr.



Million Dollars Between Us (Damien & Birdie - Trilogie #1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt