Prolog: 22.7.1959, Eutin

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22.7.1959, Eutin

Schmetterlinge tanzten um die Rosen, die noch Ingrids Vater vor Jahren gepflanzt hatte und die selbst den Krieg unbeschadet überstanden hatten. Nicht, dass sie sich daran erinnern konnte. Es waren nur Geschichten, die Furcht, in den Augen ihrer Mutter, die nie ganz verschwand und der Husten ihres Vaters, wenn die Wunde in seiner Brust zu sehr geschmerzt hatte, die sie mit dem Krieg verband. Doch war der Krieg vorbei und ihr Vater schon solange unter der Erde, dass sie nur noch unscharfe Erinnerungen an ihn hatte.

Sie dachte auch nicht an ihren Vater oder den Krieg, sondern betrachtete ihre Schwester, die mit einem breiten Lächeln auf der Decke saß und Kränze aus Gänseblümchen flocht.

„Wofür sind die?", fragte sie Maria.

Diese wandte sich zu ihr um und zuckte mit den schmalen Schultern.

„Ich weiß nicht", meinte sie, „Vielleicht für dich, damit deine Jacke schöner wird"

Es mochte warm sein, doch das hinderte Ingrid nicht daran, eine alte, viel zu große Jacke ihres Vaters zu tragen, die große, praktische Taschen besaß und sehr bequem war.

„Das kannst du machen"

„Ehrlich?" Die Augen ihrer jüngeren Schwester weiteten sich vor Überraschung.

„Ja, aber vorher möchte ich noch etwas mit dir bereden"

Maria rutschte zu ihr und strich die Falten in ihrem hübschen geblümten Kleid glatt, dass sie zur Feier ihres Geburtstages auch draußen tragen durfte.

„In Ordnung!" Ihre Augen glänzten freudig.

Ingrid wollte eben zu sprechen beginnen, als sie Thomas erblickte, der auf sie zukam.

„Eure Mutter hat den Kuchen angerichtet. Kommt rein." Seine Worte waren ein Befehl, ohne Zweifel und Ingrid hasste es, wenn man ihr Befehle gab, vor allem wenn sie von ihrem Stiefvater kamen.

„Nein!", schrie sie zornig zurück, „Man unterbricht ein Gespräch nicht! Das ist unhöflich!"

„Wir werden jetzt den Kuchen anschneiden. Euer Gespräch könnt ihr auch später fortführen!", erklärte ihr Stiefvater streng.

„Es ist aber wichtig", fauchte sie gereizt und fasste ihre Schwester an der Hand.

Ungerührt kam Thomas näher auf sie zu, was Ingrids Zorn nur noch mehr steigen ließ.

„Komm", flüsterte sie und fing, ihre Schwester an der Hand, zu rennen. Ingrid war die schnellste Läuferin ihrer Klasse, doch mit Maria an der Hand war sie langsamer, nur immer noch zu schnell für ihren Stiefvater, der als ordentlicher, verlässlicher Pfarrer nicht rannte.

Schon bald waren sie im angrenzenden Wald verschwunden und ließen sich auf einer Lichtung nieder.

Obwohl Maria keuchte, war sie nicht zu sehr geschafft, als dass sie einen missbilligenden Blick hätte aufsetzen können, den sie eindeutig von ihrem Vater hatte.

„Das war nicht sehr nett", erklärte Maria und runzelte die Stirn.

„Ich wollte Zeit mit dir verbringen, ohne, dass er zuguckt", verteidigte Ingrid, während sie sich zugleich fragte, warum sie sich ihrer kleinen Schwester gegenüber rechtfertigte.

Dennoch zog sie zwei in Zeitungspapier eingewickelte Geschenke aus ihrer Jackentasche und reichte sie ihre Schwester.

Sofort war jeder Ausdruck von Missbilligung aus deren Gesicht verschwunden und mit einem breiten Lächeln nahm sie die Gaben entgegen. Nichts besänftige Maria besser als Geschenke.

Sorgfältig riss sie das Papier des ersten Geschenkes auf und legte es zur Seite, um mit strahlenden Augen das Buch zu betrachten, das ihre Schwester ihr geschenkt hatte.

„F-Fünf F-Freunde auf g-großer F-Fahrt", las sie stockend vor.

„Danke!", strahlte sie, „Jetzt haben wir ein neues Buch, das du mir abends vorlesen kannst"

„Und bald wirst du es auch komplett alleine lesen können", versprach Ingrid ihr.

Sie deutete auf das zweite Geschenk, das ihre Schwester ebenfalls auspackte. Es enthielt eine Puppe, die Ingrid mühsam in der Schule gefertigt hatte. Die Lehrerin war erstaunt gewesen, wie ordentlich ihre Schülerin die Stiche gesetzt gewesen, doch für ihre Schwester war ihr das selbst die blutig gestochenen Hände wert gewesen.

Nach einer Weile wandten sich Marias Augen von dem Geschenk zu ihrer Schwester und mit großen Augen stellte sie fest: „Aber du hasst doch Puppen!"

„Ja", bestätigte Ingrid, „Aber dich liebe ich mehr, als dass ich Puppen hasse"

„Danke Ingrid!" Für Ingrid gab es nichts Schöneres als jenes Lächeln, das in diesem Moment das Gesicht ihrer Schwester einer Sonne gleich erhellte und sie bis in die tiefsten und finstersten Ecken ihres Herzens wärmte.

„Sieh mich an!", forderte sie und gehorsam blickte ihre Schwester sie an, „Das, was ich dir jetzt sage, darfst du nie vergessen, in Ordnung?"

„Versprochen", entgegnete Maria.

„Egal was geschieht, wir werden immer Schwestern bleiben und wir werden immer zusammen gehen!", erklärte Ingrid mit jener Ernsthaftigkeit und Überzeugung, mit der sie alles tat, was ihr wichtig war.

„Natürlich", erwiderte Maria und streckte ihre Hand vertrauensvoll ihrer großen Schwester entgegen, was dieser ein Lächeln entlockte.

Klein und verletzlich lag Marias Hand in ihrer eigenen und ließ in Ingrid den inständigen Wunsch aufsteigen, die Jüngere gegen alle Widrigkeiten des Lebens zu beschützen.

Doch plötzlich entwand Maria ihr ihre Hand und deutete mit dieser auf einen Baum.

„Wir könnten eine Hütte bauen!", rief sie aufgeregt, „Dort könntest du dich zurückziehen, wenn du wieder mit Papa gestritten hast und wir hätten ein Geheimversteck"

„Tatsächlich", erwiderte Ingrid vorsichtig, „Das könnten wir wohl"

„Bitte", flehte Maria und zog eine Schnute

Ihre ältere Schwester bedachte sie mit einem liebevollen Blick. Ohne Zweifel bedeutete es viel Arbeit, solch eine Hütte zu errichten, aber unmöglich war es nicht.

„In Ordnung", stimmte sie schließlich zu.

Maria jauchze auf und sprang in die Luft.

Dann – mit einem Mal – hielt sie inne und dieses Mal war sie es, die ihrer Schwester die Hand reichte.

„Komm, der Kuchen wartet"

Betont langsam richtete Ingrid sich auf, um zu zeigen wie wenig Lust sie auf ihren Stiefvater hatte, aber Maria beachtete das in ihrer Freude nicht.

„Aber du darfst niemanden davon etwas sagen!", prägte sie ihrer Schwester ein, „Das bleibt unser Geheimnis"

„Natürlich!", entgegnete Maria empört, „Ich bin ja nicht blöd, dafür hast du mir zu oft die Fünf Freunde vorgelesen!"

„Gut"

Wir werden immer zusammen gehen, Ingrid flüsterte die Worte vor sich hin, während sie sich Seite an Seite mit ihrer Schwester auf den Heimweg machte. Nichts würde sie jemals von Maria trennen können, selbst ihr Stiefvater nicht, dafür würde sie sorgen.

Wir werden immer zusammen gehen Noch nie hatte sie ein Versprechen gegeben, was sie so ernst nahm wie dieses. Aber sie war zwölf, hatte noch keine schlimmeren Enttäuschungen als eine schlechte Deutschnote und die Schläge ihres Stiefvaters erlebt und alles schien möglich. Selbst dieses Versprechen, in das sie all ihre Überzeugungskraft gelegt hatte.

Wir werden immer zusammen gehen.

Und sie war davon überzeugt, alles für ihre Schwester zu geben.



Wir werden immer zusammen gehenWhere stories live. Discover now