8. Kapitel: 24.4.1975, Lübeck

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An die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und des Königreichs Schweden:

Am 24.4.1975 um 1.50 Uhr haben wir die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Stockholm besetzt und 12 Botschaftsangehörige, darunter Botschafter Dieter Stoecker, Militärattaché Andreas von Mirbach, Wirtschaftsreferent Heinz Hillegaart und Kulturreferent Anno Eifgen, gefangengenommen, um 26 politische Gefangene in der Bundesrepublik Deutschland zu befreien.

Aus der RAF-Erklärung vom 24.4.1975


24.4.1975, Lübeck

Maria spürte die sorgenvollen Blicke, die Frank ihr während der Autofahrt immer wieder zuwarf. Doch sie ignorierte es, tat so, als wäre nichts und sah aus dem Fenster, wo die Landschaft vorbeirauschte. Doch sie nahm sie nicht war, sah nichts von dem wunderschönen Frühling, der draußen in aller Farbenpracht explodierte. Ihr Blick war leer. All das, was sie für die letzten vier Jahre ignoriert, was sie hinter sich gelassen hatte, schien nun erneut auf sie einzuschlagen.

Frank erklärte etwas, doch sie nahm es noch nicht einmal wahr, gefangen in Gedanken, die sie nicht formulieren, nicht ordnen konnte.

Ihr Herz pochte wild gegen den Brustkorb, ihr Atem war ruckartig und ihr Mund trocken. Die Hände zitterten so sehr, dass ihr die Wasserflasche, aus der sie soeben hatte trinken wollen, entglitt und das Nass den Boden tränkte.

Frank sagte nicht, aber er runzelte die Stirn und schüttelte leicht den Kopf. Erst als er auf dem Parkplatz der JVA geparkt hatte, wandte er sich zu ihr um und erklärte: „Hör mal..."

Aber Maria riss schon die Tür auf, hockte auf dem Schotter und erbrach ihr karges Frühstück. Ihr Ehemann hielt ihr die Haare aus dem Gesicht und strich ihr tröstend über den Rücken.

„Maria. Sieh dich doch an. Es tut dir nicht gut. Seitdem du diesen Brief bekommen hast, isst und schläfst kaum noch, bist du so abwesend, nicht mehr du. Ich weiß, dass du dich verantwortlich für deine Schwester fühlst, aber du musst auch an dich selbst und deine Gesundheit denken. Es ist in Ordnung, Grenzen zu setzen und Verantwortung abzugeben. Deine Schwester ist erwachsen, sie..."

„Und ein Teil von mir." Maria richtete sich auf und straffte sich. „Ich weiß, dass du dir Sorgen machst, aber ich muss das jetzt tun. Ich brauche es für mich selber, um mir über einige...Dinge gewiss zu werden."

Frank schüttelte den Kopf und packte sie an den Schultern.

„Du definierst dich über deine Schwester, aber das ist nicht gut. Ich bitte dich, gib dich selbst nicht für sie auf. Dafür bist du mir viel zu kostbar und ich brauche dich, nicht eine jüngere Version deiner Schwester."

„Und Ingrid brauch mich nicht?"

„Maria!" Seine Stimme wurde sanft, wie immer, wenn er sie von seiner Meinung unbedingt überzeugen wollte. Aber jetzt ließ es sie nur zorniger werden. „Deine Schwester ist eine Mörderin und eine Terroristin, die überzeugt von ihren Idealen ist. Sie hat den Kontakt zu dir wann abgebrochen? Vor vier Jahren?"

„Vor vier Jahren, zehn Monaten und einundzwanzig Tagen", antwortete Maria.

„In Ordnung, dann vier Jahre, zehn Monate und einundzwanzig Tage." Er blickte sie an. „Hör mir zu. Sie wurde im Februar 1973 gefasst."

„Richtig." Müde nickte Maria, denn war ihr nicht klar, worauf Frank heraus wollte. Es war erstaunlich, wie lange ihre Schwester sich hatte verbergen können, nachdem schon im Juni mit Ulrike Meinhof die letzte Gründerin der RAF gefasst worden war. Letztendlich hatte die Polizei sie in Kiel mit Katja Niesel, einer anderen RAF-Terroristin, aufgestöbert. Die wilde Verfolgungsjagd durch die Straßen der Landeshauptstadt war noch Wochen danach durch die Medien gegangen. Eigentlich war es ein Wunder, dass Ingrid so gut wie unverletzt aus der Schießerei hervorgegangen war. Katja Niesel und ein Polizist waren so schwer verletzt worden, dass Ärzte noch tagelang um ihr Leben gekämpft hatten. Ein anderer Polizist war dabei ums Leben gekommen. Auch wenn sich bei Untersuchungen herausgestellt hatte, dass Katja, nicht ihre Schwester, den tödlichen Schuss abgegeben hatte, hatte diese Tatsache nicht dazu beigetragen, Marias ohnehin schon schlechtes Gewissen zu beruhigen. Doch nun war sie hier und ihre Schwester saß in dieser Justizvollzugsanstalt und hatte sie zu sich gerufen.

Wir werden immer zusammen gehenWhere stories live. Discover now