3. Kapitel: 13.5.1970, Hamburg/Eutin

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Die Frage, ob die Gefangenenbefreiung auch dann gemacht worden wäre, wenn wir gewußt hätten, daß ein Linke dabei angeschossen wird - sie ist uns oft genug gestellt worden -, kann nur mit Nein beantwortet werden. Die Frage: was wäre gewesen, wenn, ist aber vieldeutig - pazifistisch, platonisch, moralisch, unparteiisch. Wer ernsthaft über Gefangenenbefreiung nachdenkt, stellt sie nicht, sondern sucht sich die Antwort selbst. Mit ihr wollen Leute wissen, ob wir so brutalisiert sind, wie uns die Springerpresse darstellt, da soll uns der Katechismus abgefragt werden. Sie ist ein Versuch, an der Frage der revolutionären Gewalt herumzufummeln, revolutionäre Gewalt und bürgerliche Moral auf einen Nenner zu bringen, was nicht geht. Es gab bei Berücksichtigung aller Möglichkeiten und Umstände keinen Grund für die Annahme, daß ein Ziviler sich noch dazwischenwerfen könnte und würde. Daß die Bullen auf so einen keine Rücksicht nehmen würden, war uns klar. Der Gedanke, man müßte eine Gefangenenbefreiung unbewaffnet durchführen, ist selbstmörderisch.

- aus dem ersten Positionspapier der RAF: Konzept Stadtguerilla, erschienen im April 1971 - 

13. 5. 1970, Hamburg


„Wir hätten da abbiegen müssen!", schrie Helena über den Fahrtlärm hinweg und schlug Hermann auf die Schulter.

„Ach, was", entgegnete dieser grinsend und überholte in rasanter Fahrt ein Auto, was dieses abrupt abbremsen ließ. Zornig hupte der Fahrer, doch Hermann ignorierte ihn.

„Lass ihn doch.", meinte Ingrid und schob ihre Freundin zurück auf den Sitz. Kopfschüttelnd ließ sich diese zurücksinken und schüttelte wohl wissend, dass eine Ermahnung den Fahrstil ihres Fahrers nicht sicherer machen würde, den Kopf.

„Wir hätten doch auf Peters Angebot eingehen sollen", erklärte Helena so leise, dass Hermann es nicht hören konnte. „Er wäre zwar erst morgen losgefahren, aber wesentlich zuverlässiger gewesen."

Unzuverlässig. So konnte man Hermanns Fahrstil sicherlich beschreiben, dennoch genoss Ingrid es. Die Autos, die hinter ihnen zurückblieben, die vorbeiziehenden Straßenzüge, der Wind, der durch die kaputte Fensterscheibe pfiff, all das vermittelte ihr ein Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit.

„Jetzt fahr aber mal langsamer!", rang Helena sich schließlich doch durch, „Man kann die Straßenschilder nich mal mehr lesen."

Als Hermann daraufhin tatsächlich abbremste, konnte sie ihre Überraschung jedoch nicht verbergen.

„Seht ihr das da drüben?" Ohne sich länger auf das Autofahren zu konzentrieren, streckte ihr Fahrer die Hand aus dem Fenster und deutete auf eine ferne Gruppe von Gebäuden. „Das ist das Männergefängnis Neuengamme oder die Justizvollzugsanstalt XII." Der Abscheu in seiner Stimme war unüberhörbar und ließ Helena verwirrt die Stirn runzeln, aber Ingrid verstand, worauf er hinaus wollte. „Und früher ein KZ", meinte sie leise, als sei so der Tod zu verschleiern, den die Nazis dort gebracht hatten.

Hermann warf ihr durch den Rückspiegel einen schwer zu deutenden Blick zu, dann nickte er. „Richtig" Seine Stimme war ernst, jegliche Freude und Übermut verschwunden. „Damit wir vergessen, was dort einst geschah, damit niemand sich mehr erinnert, dass es dort einst ein KZ gab, in dem Tausende Juden ermordet worden sind."

Ihrer Kenntnis nach waren in Neuengamme vor allen politische Verfolgte und nur wenige Juden gewesen, doch war diese Tatsache in diesem Moment vollkommen unerheblich. Sie verstand seinen Zorn.

„Und den Angehörigen der Ermordeten wird jegliche Möglichkeit genommen, sich zu erinnern und an den Ort zurück zu kehren, wo ihre Liebsten starben", fügte sie also hinzu.

Wir werden immer zusammen gehenWhere stories live. Discover now