4. Kapitel: 3.6.1970, Eutin/Ost-Berlin

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Die Bildung der RAF 1970 hatte in der Tat spontaneistischen Charakter. Die Genossen, die sich ihr anschlossen, sahen darin die einzige wirkliche Möglichkeit, ihre revolutionäre Pflicht zu erfüllen. Angeekelt von den Reproduktionsbedingungen, die sie im System vorfanden, der totalen Vermarktung und absoluten Verlogenheit in allen Bereichen des Überbaus, zutiefst entmutigt von den Aktionen der Studentenbewegung und der APO hielten sie es für nötig, die Idee des bewaffneten Kampfes zu propagieren. Nicht weil sie so blind waren, zu glauben, sie könnten diese Initiative bis zum Sieg der Revolution in Deutschland durchhalten, nicht weil sie sich einbildeten, sie könnten nicht erschossen und nicht verhaftet werden. Nicht weil sie die Situation so falsch einschätzten, die Massen würden sich auf ein solches Signal hin einfach erheben. Es ging darum, den ganzen Erkenntnisstand der Bewegung von 1967/68 historisch zu retten; es ging darum, den Kampf nicht mehr abreißen zu lassen.

- Ulrike Meinhof 1975 über die Gründung der RAF -

3.6.1970, Eutin

Mit einem Lächeln betrachtete Ingrid ihre Schwester im Licht des Mondes, das durch das offene Fenster hereindrang. Sie sah so unschuldig, so verletzlich aus wie sie in ihrem Bett lag, die Decke fort getreten, nur mit einem Nachthemd bekleidet, für dessen rote Blümchen sie eigentlich schon viel zu alt war. Ihr Haar, das dunkler wirkte, als es eigentlich war, war zerzaust wie immer des Nachts. Die Augen zuckten unter den Lidern und verrieten, dass Maria träumte. Die Ältere hoffte so sehr, dass ihre Schwester von Glück und Hoffnung träumte, anstelle des Leids, das diese Welt prägte.

Sie hob die Hand und legte sie auf die Wange der Schülerin. Die Haut war warm und weich unter ihrer Berührung, doch Ingrids Finger waren kalt, so dass sie sich bald regte.

Maria schlug die Augen auf und weitete sie überrascht. Jedes andere Mädchen ihres Alters hätte geschrieen, doch nicht Maria. Die Wangen röteten sich und jedes strahlende Lächeln, für das Ingrid ihre Schwester verehrte, zierte ihre Mundwinkel.

Ohne ein Wort sprang sie auf und umarmte den unerwarteten Gast heftig. Ingrid drückte den warmen, lebendigen Körper an sich, spürte das Herz ihrer Schwester an ihrer Brust pochen und nur dank des Gedanken an die kalten, leblosen Körper auf den Feldern Vietnams vermochte sie es ihre Schwester von sich zu schieben.

Maria hob eine Augenbraue, doch ging nicht darauf ein und fragte nur: „Was machst du hier? Du wolltest doch erst zu deinem Geburtstag wiederkommen!" Ihre Stimme zitterte und jegliche Freude schien verschwunden hinter der Frage, was ihr Besuch hier bedeuten mochte. Es war kein normaler Besuch, nicht mitten in der Nacht, nicht wenn Ingrid sich heimlich ins Haus geschlichen hatte, das wussten sie beide.

Nichts war Ingrid je schwerer gefallen, als die folgenden Worte über die Lippen zu bringen: „Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden." Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, alles zurück zu lassen und sich vollends der Revolution anzuschließen.

Die Angst war nun nicht länger verdeckt, sondern ein offener Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Schwester.

„W-Wohin?"

Ingrid bewunderte es, dass ihre Schwester nicht nach dem Warum fragte und dass ihre Augen trocken blieben.

„Dorthin wo die Revolution mich braucht." Ein Teil von ihr wollte ihrer Schwester von Jordanien erzählen, dem Camp, das sie dort mit den Genossen besuchen würde und ihren Plänen. Doch wäre es Verrat gegenüber den Kameraden und so schwieg sie.

„Was redest du denn da? Dein Platz ist hier, meinetwegen auch in West-Berlin, aber auf jeden Fall an meiner Seite."

„Dieser Teil meines Selbst gehört der Vergangenheit an, denn kennt der Revolutionär keinen Komfort, sondern nur den Kampf." Der offene Schmerz in den Augen ihrer Schwester schmerzte auch Ingrid, doch war die Wahrheit das allerbeste Heilmittel und Maria musste ihren Weg einfach verstehen.

Wir werden immer zusammen gehenWhere stories live. Discover now