1. Kapitel: 11.5.1972, Eutin

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Für die Ausrottungsstrategen von Vietnam sollen Westdeutschland und Westberlin kein sicheres Hinterland mehr sein. Sie müssen wissen, daß ihre Verbrechen am vietnamesischen Volk ihnen neue erbitterte Feinde geschaffen haben, daß es für sie keinen Platz mehr geben wird in der Welt, an dem sie vor den Angriffen revolutionärer Guerillaeinheiten sicher sein können.

- aus der RAF-Erklärung vom 14.5.1972 -


11.5.1972, Eutin


„Hast du schon gehört?"

Die lauten Rufe veranlassten Maria, stehen zu bleiben. Hanna, eine Klassenkameradin schlitterte um die Ecke und blieb keuchend vor ihr stehen.

„Hast du es schon gehört?", wiederholte sie.

„Was soll ich gehört haben?", wiederholte Maria und runzelte die Stirn. Eigentlich war Hanna eine gute und ruhige Schülerin, die zwar gerne redete und argumentierte, dies jedoch sehr rational und gelassen tat. Wenn sie etwas so aufregte, das sie freiwillig rannte, musste es bedeutend sein.

„Die Bomben! In Frankfurt!"

Ein Schauer lief über den Rücken der jungen Frau, der nicht das Geringste mit dem Maiwind zu tun hatte, der jetzt am frühen Abend noch sehr kühl sein konnte. Die dunkle Ahnung, das der Frieden, der durch Banküberfälle und Schusswechsel in den Straßen Westdeutschlands schon Risse bekommen hatte, nun endgültig zerbrochen war, machte sich in ihr breit.

Ihr Mund war staubtrocken und sie brauchte einen Moment, um die Worte zu formen: „Was genau ist geschehen?"

Hanna zuckte mit den Schultern. „So genau weiß ich das auch nicht. Es wurde erst eben im Radio durchgegeben. In Frankfurt am Main sollen Bomben im Hauptquartier des V. US-Korps explodiert und große Zerstörung angerichtet haben. Es gibt Tote und Verwundete", sprudelte sie hervor.

Eine ältere Frau, die bei Hannas Worten neben ihnen stehen geblieben war, schüttelte verständnislos den Kopf. „Das ist grausam!", murmelte sie, „Man sollte meinen, wir befinden uns wieder im Krieg. Die armen Menschen."

„Aber es waren Soldaten, die unschuldige Zivilisten in Vietnam töten", wandte ihre Schulfreundin ein, nachdem die Frau weitergegangen war.

„In erster Linie waren es Menschen", widersprach Maria.

„Menschen, die solche Grausamkeiten wie in Vietnam begehen können, haben ihre Menschlichkeit verloren."

„Und woher willst du wissen, dass die in Frankfurt verletzten, solche schrecklichen Taten – wie es ohne Zweifel sind – begangen haben? Nein, wir haben kein Recht, über sie zu richten.

„Und Gott hat das?", Hanna schnaubte, „Dann kannst du lange auf Gerechtigkeit warten."

„Egal von welcher Seite es kommt, Gewalt zur Durchsetzung von Zielen ist schrecklich und unhaltbar."

„In Artikel 20, 4 Absatz des Grundgesetztes steht: Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutsche das Recht auf Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist", zitierte Hanna, deren älterer Bruder Rechtsanwalt war.

„Aber so ist es doch nicht! Andere Abhilfe ist möglich. Wir haben politische Rechte. Wir dürfen auf die Straße gehen und protestieren, aber friedlich.", protestierte Maria.

„Dennoch wurde Ohnesorg bei der Ausübung seiner politischen Rechte erschossen und der Kurras wurde für Mord freigesprochen, während Fritz Teufel wegen dem Werfen eines Steins für Monate in Untersuchungshaft saß. Sieht so ein gerechter Staat aus?"

Wir werden immer zusammen gehenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt