9.Kapitel: 5.9.1993, Lübeck/Hamburg

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Wir haben uns entschieden, dass wir von uns aus die Eskalation zurücknehmen. Das heisst, wir werden Angriffe auf führende Repräsentanten aus Wirtschaft und Staat für den jetzt notwendigen Prozess einstellen.

Aus der RAF-Erklärung vom 10.4.1992

Achtzehn Jahre später stand Maria erneut vor dem grauen, tristen Gebäude der Justizvollzugsanstalt Lübeck. Achtzehn Jahre des Wartens, die heute ein Ende finden würden. Denn heute, heute war der Tag, an dem man Ingrid entlassen würde. Noch immer wusste Maria nicht genau, was sie davon halten sollte. Eigentlich hätte ihre Schwester noch zwei Jahre absitzen müssen, doch war sie frühzeitig begnadigt worden.

Wem würde sie gegenüberstehen? Einer Fremden oder jener Schwester, die ihr einst versprochen hatte, dass sie immer zusammen gehen würden?

Der Kontakt zu Ingrid war nicht regelmäßig gewesen. Immer wieder hatte ihre Schwester den Kontakt abgebrochen und wieder aufgenommen.

Gesehen hatten sie sich nach der Besetzung der deutschen Botschaft erstmals Ende August 1977. Diese Begegnung schien eine Wiederholung des vorigen Treffens zu sein. Jede Menge Anklagen, Geschrei und erneut eine Abschiedserklärung Ingrids. Und wieder war diesem Treffen eine schreckliche Tat der RAF nachgefolgt. Der Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer wurde entführt und auch diese Tat sollte erneut der Freipressung inhaftierter Mitglieder dienen - auch Ingrids Freilassung war gefordert worden.

Als die Bundesregierung nicht auf die Forderungen eingegangen war, hatte ein befreundetes Kommando von Palästinensern ein Flugzeug - die Landshut - entführt. Zum Glück wurden alle Geiseln von der deutschen Eliteeinheit GSG 9 befreit und die RAF-Freipressung scheiterte wiederum. Noch in derselben Nacht beging die RAF-Spitze Suizid in Stuttgart-Stammheim, was vom Unterstützerfeld selbstverständlich sofort als Staatsmord bezeichnet worden war. Kurz darauf wurde die Leiche Hanns-Martin Schleyers gefunden.

Im September 1981 fand das nächste Treffen statt, kurz nach dem Anschlag auf das US-Hauptquartier der Landstreitkräfte in Ramstein. Wieder beherrschten laute Diskussionen das Gespräch - und doch hatte Ingrid sich verändert. Sie hatte weder Zweifel an der Ideologie, noch Reue an ihren Taten gezeigt, doch waren für ihre Schwester genug Zeichen auf eine veränderte Meinung zu erkennen gewesen. Liquidierung und Staatsmord waren weiterhin beständige Begriffe ihres Wortschatzes und die Diskussionen weiterhin lautstark gewesen, aber es hatte vereinzelte Momente gegeben, wo die Atmosphäre sich gewendet hatte. Momente, in denen Ingrid etwas wie „Wir kämpfen für, nicht gegen das Volk", „Der Preis meiner Freiheit soll nie der Tod von Kindern sein" oder „Die Befreiung des Proletariats war unser ursprünglichstes und reinstes Ziel" gemurmelt hatte. Schließlich hatte Maria verstanden, dass ihrer Schwester die Flugzeugentführung 1977 missfallen hatte - weil die Passagiere einfache Zivilisten gewesen waren.

Für Maria war das ein Anfang gewesen, der Hoffnung machte. Ihr nächstes Treffen war Anfang August 1985, erneut nach einem Anschlag der RAF, dieses Mal auf die Rhein-Main Air Base. Auch hier hatte eine Tat Ingrids Rechtsempfinden und ihre Moralität, die sie auf eine verquere Art und Weise immer noch besaß, erschüttert. Den Mord an dem US-Soldaten Edward Pimental einen Tag vor dem Anschlag, nur um an seinen Ausweis zu gelangen. Wieder hatte sie keine direkte Kritik an ihrer Gruppe geleistet, doch hatte sie Argumente weitaus weniger leidenschaftlich vorgetragen als früher, so als ob sie müde sei.

Nach dieser Zeit war der Briefkontakt zwischen ihnen rege gewesen, doch erst 1992 hatte Ingrid um ein weiteres Treffen gebeten. Für ihre Verhältnisse aufgeregt hatte sie Maria von der Kinkel-Initiative erzählt. Der Bundesjustizminister Klaus Kinkel hatte den RAF-Häftlingen Haftentlassungen angeboten, sofern die Illegalen von weiteren Anschlägen und Operationen absahen. Sie hatte es nicht ausgesprochen, doch Maria hatte ihr angesehen, dass sie darauf eingehen wollte. Tatsächlich hatte die RAF darauf auf weitere blutige Taten verzichtet - nur gegen die JVA Weiterstadt war im März dieses Jahres ein Sprengstoffanschlag verübt worden. Menschen waren dabei nicht verletzt worden, das Wachpersonal der noch nicht in Betrieb genommenen JVA wurde nur gefesselt und gewaltsam aus dem Gebäude gebracht, bevor die Sprengladungen explodierten.

Wir werden immer zusammen gehenHikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin